Madrapour - Merle, R: Madrapour
Angst und sinnlose Panik. Mich überkommt eine verzweifelte Lust, aufzustehen, mich aus dem Flugzeug zu stürzen und mich in diesem Meer sonnenbeschienenerweißer Wolken zu verstecken, die ich durch das Kabinenfenster zu meiner Rechten sehen kann. Ein Fieberwahn, der nicht einmal durch Fieber gerechtfertigt ist.
Solche Augenblicke des Entsetzens sind kurz, aber sie laugen mich aus, denn mein ganzer Körper ist gleichsam vom Starrkrampf befallen in dem heftigen Wunsch, um jeden Preis diesem Flugzeugrumpf zu entrinnen, der mich gefangenhält. Ich weiß, das ist von himmelschreiender Absurdität. In Wirklichkeit will ich mich verzweifelt meines inneren Feindes entledigen, der wie ein Wurm an meinen Kräften nagt.
Ich durchlebe abwechselnd zwei Arten von Angst: die unbestimmte, an den Nerven zerrende, fiebrige Angst, die alles in allem erträglich ist, wo die Erwartung (und die Verweigerung) eines gefürchteten Ereignisses mich am Leben hält; und die geschilderte spasmische Angst, ein kurzer paroxystischer Zustand, der sich durch Schweißausbruch ankündigt: Der Schweiß rinnt nicht tropfenweise, sondern fließt in Strömen. Ich spüre ihn auf der Brust, unter den Achseln, am Hals, auf den Handflächen und im Rücken zwischen den Schulterblättern. Mein ganzer Körper vibriert und zittert in einem unbezähmbaren Drang zu fliehen, ich fühle niederschmetternd und unkontrollierbar die absolute Gewißheit in mir auf steigen, daß ich sterben werde.
Als ich aus dieser Krise emportauche und mir mit dem Taschentuch, das ich mühsam aus meiner Jackentasche ziehe, den Schweiß vom Gesicht wische, hilft Chrestopoulos mir unwissentlich, zu meinem normalen Zustand zurückzufinden – wenn ich die vage Angst, von der ich sprach und die ich mit allen »Passagieren« teile, auch mit denen der Mehrheit, als »normal« bezeichnen darf.
Der Grieche hat eine merkwürdige Art der Nahrungsaufnahme. Seine
table manners
fallen mir gerade jetzt auf, weil er zu Beginn der Mahlzeit Michou hat weichen müssen – auf deren brutale, kindische Aufforderung hin (He, Sie Bärtiger, runter von meinem Platz!) – und nun am oberen Ende des rechten Halbkreises sitzt, wo ursprünglich die Begleiterin des Inders gesessen hat. Von diesem Platz trennen mich nur der Gang zwischen den beiden Halbkreisen und der leere Sessel der Stewardess. Ich sehe den Griechen also aus unmittelbarer Nähe, und nicht genug damit: ich rieche ihn, denn der Gestank von Patschuli,Schweiß und Knoblauch kommt in Schwaden zu mir herüber.
Er ißt nicht, er frißt. Er kaut nicht, er schlingt. Er stürzt sich auf sein fades Stück gefrosteter Lammkeule wie ein ausgehungerter Wolf auf die dampfenden Eingeweide eines Hasen. Ein Wunder, daß er überhaupt noch sein Besteck zu Hilfe nimmt. Wenn er glaubt, das Essen nicht schnell genug in sich hineinzustopfen, schiebt er mit den Fingern nach. Seine Wangen sind prall wie Hamsterbacken, und ich befürchte ständig, daß ihm der große Klumpen, den er kaum kaut, bevor er ihn hinunterschluckt, in der Kehle steckenbleiben wird. Aber nein, er spült einen kräftigen Schluck Wein hinterher, den Klumpen aufzuweichen, damit er rutscht, und man sieht ihn rutschen in seinem Hals, ganz wie bei einer Boa, die ein Kaninchen verschlingt.
Chrestopoulos ist natürlich als erster fertig, und nachdem die Stewardess sein Tablett weggeräumt hat, zündet er sich eine lange, stinkende schwärzliche Zigarre an, zieht dann mit zufriedener Miene aus der Innentasche seines Jacketts ein Bündel Toilettenpapier, zählt sorgfältig, nimmt einen kleinen Stapel und reicht ihn Pacaud.
»Monsieur Pacaud«, sagt er, die lange Zigarre im rechten Mundwinkel, »ich gebe Ihnen die 10 000 Schweizer Franken zurück, die Sie mir vorgeschossen haben.«
»Danke«, sagt Pacaud und nimmt mechanisch die Zettel entgegen, wobei seine Augen vor Überraschung mehr als gewöhnlich hervorquellen. »Das war doch gar nicht nötig. Ich glaube nicht, daß Emile noch eine Partie spielen will.« Und da Bouchoix, der mehr denn je wie eine Leiche aussieht, die Augen nicht aufschlägt, fügt Pacaud mit einem angedeuteten Lächeln leise hinzu: »Wissen Sie, er verliert nicht gerne. Und Sie haben ihn ausgenommen. Mich auch. Wir sind eben keine sonderlich guten Spieler.«
»Na gut, dann könnten wir ja abrechnen«, meint Chrestopoulos. Er breitet die ihm verbliebenen Toilettenpapierzettel fächerartig wie Spielkarten in seinen Händen aus und sagt: »Ich habe hier Scheine für 18 000
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