Madrapour - Merle, R: Madrapour
werde mich hüten. Ich kenne die ausweichenden Antworten, die sie mir geben würde. Im übrigen glaube ich nicht, daß sie über diesen Flug mehr weißals wir. Aber dank ihrer Erfahrungen als Stewardess werden ihr Einzelheiten aufgefallen sein, die uns entgehen und aus denen sie pessimistische Schlüsse zieht.
Am »weitesten« in Front liegt bei der Minderheit unverkennbar Robbie. Ich weiß, woher sein Mut kommt, sich nichts vorzumachen und die Illusionen der Mehrheit zurückzuweisen. Beim Militär, kann ich mir denken, ist es meistens der latente oder bewußte Homosexuelle, der sich zu den Himmelfahrtskommandos meldet. Er ist aus dem Stoff, aus dem ein Held gemacht ist. Von Natur aus dem Zyklus der Transmission des Lebens ausgeschlossen, ist er eher zu sterben bereit.
Ein Mann wie Caramans wird stets Sorge um seine Nachkommenschaft tragen: Frau und Kinder, alles Geiseln, mit denen er sich der Zukunft verpflichtet hat. Fesseln, die er sich selbst geschmiedet hat, um sich noch fester ans
Rad der Zeit
zu ketten. Durch diese Ketten hat das Leben ihn in der Gewalt, er muß sich daran klammern, angesichts der ihn umgebenden Gefahren sich durch Optimismus und Blindheit beruhigen.
Ich möchte daran erinnern: Robbie hatte sich freiwillig fürs Jenseits gemeldet, als der Inder drohte, eine Geisel zu erschießen. Daß er jetzt in unserem Kreis eine so wichtige Stellung einnimmt, überrascht mich. Mit seinen bloßen Füßen und den rotlackierten Zehennägeln, seiner hellgrünen Hose, seinem azurblauen Hemd und seinem orangefarbenen Halstuch war er mir anfangs zwar sympathisch erschienen, ein bißchen provokatorisch und pittoresk, aber besonderes Format habe ich ihm nicht zugetraut.
Dieses Vorurteil muß ich fallenlassen. Sobald Robbie jetzt den Mund aufmacht, wird es still, und alle hören ihm zu, selbst Caramans, der bemüht ist, über ihn hinwegzusehen, und das Wort nie direkt an ihn richtet. Mit solchem Gehabe wird er nicht lange Erfolg haben. Damit nun niemand glaubt, ich überschätzte Robbie, nachdem ich ihn unterschätzt habe, möchte ich betonen, daß Robbie trotz allem eine gefährdete Position innehat, auch gegenüber der Minderheit, deren Wortführer er ist. Weder ich noch vermutlich die Stewardess sind bereit, das Schicksal der Passagiere so absolut hoffnungslos zu sehen. Was Madame Murzec betrifft, so zeugt die Tatsache, daß sie kniend im Cockpit betet, von ihrer Erwartung eines glücklichenAusgangs, sei es durch ein Eingreifen des Himmels, sei es durch das Wohlwollen des BODENS.
Ein Punkt, den erstaunlicherweise noch keiner berührt hat, nicht einmal Robbie, ist die Frage des Treibstoffs.
Unmöglich, zu sagen, wie spät es war, als die Maschine in der Nacht gelandet ist. Aber selbst wenn die eisige Zwischenlandung erst kurz vor Tagesanbruch erfolgte – jetzt steht die Sonne im Zenit, und seit gestern abend ist offensichtlich viel mehr Zeit verflossen, als der Treibstoffvorrat bei einem Nonstopflug gestattet. Daß der BODEN die improvisierte Landung nutzte, um die Tanks aufzufüllen, ist kaum wahrscheinlich. Wir haben nichts gehört und nichts gesehen.
Bei dieser Sachlage besteht die einfachste Lösung in der Annahme, daß die Maschine, in der wir fliegen und die keiner von uns zu identifizieren vermochte, ein mit Atomkraft betriebenes Versuchsmodell ist. In einem solchen Falle könnte sie mit der ersten Beschickung ihres Reaktors monatelang fliegen.
Ich werde darüber später Robbie befragen, der netterweise neben mir Platz nimmt und sich teilnahmsvoll nach meiner Gesundheit erkundigt, während die Stewardess in der Pantry beschäftigt ist.
Robbie lächelt ironisch, schüttelt seine blonden Locken und sagt in fröhlichem Tonfall, den seine Worte sofort Lügen strafen: »Doch, doch, Monsieur Sergius, das ist sehr beängstigend. Wir stehen vor einem heiklen Problem. Aber glauben Sie mir, das hat nichts mit Science-fiction zu tun …«
Ich esse widerstrebend die Hälfte der Mahlzeit, die die Stewardess uns serviert. Mein Zustand stürzt mich in völlige Verwirrung, zumal mir Ähnliches bisher nicht zugestoßen ist. Nie habe ich eine so extreme Schwäche kennengelernt, die ohne Krankheitssymptome, ohne Schmerzen, ohne Fieber auftritt und die sich auch nicht allmählich eingestellt hat: keine sinkende Kurve, die hoffen ließe, daß es später wieder mit mir aufwärtsgeht. Schlagartig befinde ich mich auf dem Tiefpunkt. Als der Kreis meine Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch nimmt, packen mich
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