Madrapour - Merle, R: Madrapour
tiefes Schnarren, so wenig menschlich und so abstoßend mechanisch, daß uns das Blut erstarrt. Wenn es vorübergehend aussetzt, wird ein zischendes Pfeifen laut, wie wenn aus einem Reifen Luft entweicht, oder ein herzzerreißendes Stöhnen dringt über die fleischlosen, blutleeren Lippen in dem schweißbedeckten Gesicht. Sosehr wir uns damit trösten, daß Bouchoix vielleicht schon im Koma liegt und die Schmerzen nicht mehr wahrnimmt – die Wirkung auf unsere Nerven ist kaum erträglich. Pacaud, dessen Augen fast aus ihren Höhlen treten und dem der Schweiß über den kahlen Schädel rinnt, bedrängt seinen Schwager mit angstvollen Fragen, die ohne Antwort bleiben; Bouchoix’ starre, weit aufgerissene schwarze Augen verraten nicht das geringste Anzeichen von Leben.
»Sie sehen doch, daß Ihr Schwager nicht sprechen kann«, sagt Blavatski in einem aggressiven Tonfall, der nicht recht zu dem mitleidigen Ausdruck seiner kurzsichtigen Augen passen will. Achselzuckend, als ob ihn das Geschehen völlig kalt ließe, fährt er auf englisch mit brutaler, vulgärer Stimme fort: »Der kratzt jetzt ab.«
Als ein Mann, der zu handeln gewohnt ist, schnellt er gleichzeitig aus seinem Sessel hoch und tritt nervös von einem Bein aufs andere, beide Daumen im Gürtel seiner Hose verhakt, das Kinn vorgeschoben.
»Man müßte trotzdem etwas für ihn tun«, sagt er wütend und läßt einen anklagenden Blick über den Kreis schweifen, als machte er uns unsere Machtlosigkeit zum Vorwurf.
Dieser Vorwurf ist so absurd, daß niemand antwortet. Blavatski bleibt stehen, zu handeln entschlossen, aber er macht keinen Vorschlag, schaukelt nur wie ein Bär von einer Seite auf die andere, mit einer Regelmäßigkeit, daß einem übel wird.
»Wenn ich Kölnischwasser hätte, würde ich ihm die Stirn betupfen«, sagt die Stewardess, die beinahe farblosen Brauen voller Besorgnis hochgezogen.
»Kölnischwasser!« höhnt Blavatski. »Mit Kölnischwasser wollen Sie ihn behandeln!«
»Nein, nicht behandeln«, sagt die Stewardess, zum erstenmal sichtlich verärgert. »Aber ihm vielleicht Erleichterung verschaffen.«
Blavatski wechselt sofort die Stellung und greift die von ihmverschmähte Idee auf; als beherrschte er jetzt wieder die Situation, fragt er laut und energisch: »Wer hat in seinem Handgepäck Kölnischwasser?«
Er läßt seinen Blick über den Kreis schweifen, und bei jeder Kopfbewegung funkeln seine dicken Brillengläser. Keine Antwort. Nach einer vollen Minute des Schweigens wendet sich die Murzec an Mrs. Boyd.
»Entschuldigen Sie meine Indiskretion, aber hatten Sie nicht ein Fläschchen in Ihrer Tasche?«
Das runde Gesicht von Mrs. Boyd errötet, und ich bemerke zum erstenmal, daß ihre Frisur seit dem Vortag ganz unverändert geblieben ist, die Locken so tadellos und steif, als wären sie aus Metall.
»Aber das ist doch kein Kölnischwasser«, sagt sie auf englisch mit ihrer Mädchenstimme, zwischen Angst und Indignation schwankend. »Das ist Toilettenwasser von Guerlain!«
»Madame«, ermahnt Blavatski sie laut, nach hinten wippend, als wollte er sich auf Mrs. Boyd katapultieren, »Sie werden doch einem Sterbenden nicht Ihr Kölnischwasser verweigern!«
»Wie? Was?« ruft Mrs. Boyd mit schriller Stimme und hebt erregt ihre rundlichen Hände. »Dieser Mann liegt im Sterben? Aber das wußte ich nicht! Man hat es mir nicht gesagt! Mademoiselle«, wendet sie sich erbost an die Stewardess, »die Chartergesellschaft darf den Passagieren einen solchen Anblick nicht zumuten! Das ist unverschämt! Man muß den Mann sofort in die Touristenklasse bringen!«
Betroffenes Schweigen. Pacaud, der vor Wut fast erstickt, öffnet den Mund, bringt aber kein einziges Wort hervor. Alle Augen richten sich auf Mrs. Boyd, die indessen, hinter ihrem guten Recht verschanzt, niemanden ansieht. Mit ihren kurzen Armen preßt sie die Krokodilledertasche an ihr Bäuchlein.
Mrs. Banister legt ihre Hand auf den Arm ihrer Freundin, beugt sich vor und flüstert ihr auf englisch ein paar Worte ins Ohr. Ermahnende Worte, vermute ich, denn Mrs. Banister nimmt jene engelgleiche Miene an, die sie schon bei unserer Selbstkritik im Falle Murzec aufgesetzt hat.
Schwer zu sagen, ob sie in diesem Falle aufrichtig ist oder nicht; sie ist um ihr Image besorgt, und Mitleid scheint nicht ihr dominierender Charakterzug zu sein. Nichtsdestowenigersetzt sie sich wohl in positivem Sinne ein. Allerdings vergebens. Denn je dringlicher sie insistiert, um so mehr versteinert
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