Madrapour - Merle, R: Madrapour
sich das ängstliche Puppengesicht von Mrs. Boyd, das ein erstaunlicher Ausdruck von verletztem gutem Gewissen wie eine schützende Glasur überzieht.
»Nein, meine Liebe«, sagt sie schließlich mit zusammengepreßten Lippen, »was mir gehört, gehört mir, und ich verfüge darüber, wie es mir paßt. Die beiden Gangster haben mich schon genügend ausgeplündert. Das reicht mir.«
Mit ihren Kulleraugen blickt sie entschlossen geradeaus und preßt die Krokodilledertasche noch fester an sich.
»Wie Sie wollen«, sagt Mrs. Banister höflich und ein wenig pikiert.
Sie deutet ein für den Kreis bestimmtes Achselzucken an, dem eine sehr graziöse Beugung ihres Halses in Manzonis Richtung folgt. Die Gemeinsamkeit zweier auserwählter Herzen beschwörend, ruft sie ihn mit einem melancholischen Lächeln zum Zeugen ihrer Niederlage an.
»Mrs. Boyd«, sagt Blavatski mit dröhnender Stimme, »Ihr Egoismus überschreitet alle Grenzen! Wenn Sie der Stewardess nicht freiwillig Ihr Fläschchen Kölnischwasser geben …«
»Toilettenwasser«, verbessert ihn Mrs. Boyd.
»Das ist egal! Wenn Sie der Stewardess das Fläschchen nicht geben, nehme ich es Ihnen mit Gewalt weg!«
»Aber Monsieur Blavatski!« protestiert Caramans und hebt abwehrend seine rechte Hand. »Mit dieser Verfahrensweise bin ich nicht einverstanden. Sie gehen viel zu weit! Das Fläschchen gehört Mrs. Boyd! Und Sie können es ihr nicht wegnehmen!«
»Und wer sollte mich daran hindern?« fragt Blavatski, der angriffslustig Kampfstellung bezieht.
»Ich!« sagt Chrestopoulos, der seinerseits aufsteht und Blavatski gegenübertritt.
Er ist puterrot, er schnauft und schwitzt, aber in seinen kleinen Augen glitzert die Freude der Rache. Diese Herausforderung ist ein Schock für die Mehrheit, nicht an sich, sondern wegen ihrer Tragweite. Denn klar ist: wenn Chrestopoulos keine Angst mehr vor Blavatski hat, wenn er sogar wagt, gegen ihn aufzutreten und ihn zum Kampf aufzufordern, so ist die normale Ordnung der Dinge durcheinandergeraten.
Blavatski weiß das alles. Für ihn ist es ein doppelter Schock, denn seine Position im Flugzeug ist ebenso in Frage gestellt wie die von ihm geschaffene Hierarchie unter den Passagieren. Wenn er für den Griechen bislang nur abgrundtiefe Verachtung übrig hatte, so war es nicht allein die Verachtung des Polizisten gegenüber dem Drogenhändler, sondern galt gleichermaßen der äußeren Erscheinung von Chrestopoulos, seiner Kleidung, seinen Manieren, seinem Parfum und vielleicht, unbewußter, seiner Rasse und seiner Herkunft aus einem armen Land. Und jetzt wagt es diese Ratte, dieser Hergelaufene, ihn herauszufordern. Kinn vorgeschoben, Brust geschwellt, Beine gespreizt, wahrt Blavatski auf Grund eines eingeschliffenen Reflexes seine autoritäre Haltung. Aber man spürt, daß seine Vorstellung von sich selbst und seiner Rolle erschüttert ist. Während der wenigen Sekunden, die dem Ausruf des Griechen folgen, fühlt er sich, glaube ich, so unerträglich gedemütigt, daß er sein Gegenüber vielleicht niedergeschossen hätte, wenn ihm der Inder nicht die Waffe weggenommen hätte. Zumindest sehe ich, wie er mit der Hand unter seine linke Achsel greifen will. Aber er läßt die Hand gleich wieder fallen. Dann stützt er beide Hände in die Hüfte und verharrt in dieser heroischen Pose. Sein Gesicht verrät nach wie vor Entschlossenheit, aber er trifft keine Entscheidung, reagiert nicht auf die Herausforderung des Griechen.
Er bekommt Hilfe von einer Seite, von der er sie nie erwartet hätte. Mrs. Boyd sieht Chrestopoulos mit ihren runden Augen an. Verblüfft starrt sie auf diesen zweifelhaften Ritter. Seine Kühnheit, ihre Partei zu ergreifen, bringt sie mehr aus der Fassung als Blavatskis Drohungen.
»Ich habe nicht um Ihre Hilfe gebeten«, sagt sie schließlich verdrossen. »Und ich brauche auch niemanden.«
»Aber, aber …«, stammelt Chrestopoulos, empört über soviel Undankbarkeit, und vergißt in seiner Wut, daß er aufgestanden war, um Mrs. Boyd zu verteidigen. »Aber ich habe Sie auch nicht nach Ihrer Meinung gefragt, Sie alte Schildkröte!«
»Monsieur! Monsieur!« sagt Caramans, beide Hände priesterlich erhoben.
»Hört alle endlich auf!« schreit fast zur gleichen Zeit Pacaud. In seinen großen geröteten Augen stehen Tränen, denen er freien Lauf läßt. »Lassen Sie meinen Schwager wenigstens ruhig sterben, wenn Sie nichts anderes für ihn tun können.«
Und der Zwischenfall endet genauso sinnlos, wie er begonnen
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