Madrapour - Merle, R: Madrapour
Todesangst beim Erwachen.
Sie entfernt sich. Vermutlich bringt sie das Glas in die Pantry zurück. Ich habe die schreckliche Vorstellung, daß man im Morgengrauen die sanfte, zärtliche Person der Stewardess gestohlen und nur ihre Hülle in der Chartermaschine zurückgelassen hat.
Eine Fremde setzt sich neben mich, die nichts mit mir verbindet. Um den Preis einer enormen Anstrengung – mir droht bereits die Ankylose – gelingt es mir, den Kopf zu drehen. Ich erkenne ihr goldblondes Haar, ihr zartes Gesicht, die kindliche Linienführung ihres Mundes. Aber sie ist es nicht, dessen bin ich jetzt sicher, denn auf das stumme Flehen meiner Augen hin hätte sie sich mir bereits zugewandt. Ihre Lider bleiben gesenkt, ihre Hände ruhen auf ihren Knien. In ihrem Gesicht steht ein Ausdruck professioneller Langeweile, wie ihn die Stewardessen der Langstreckenflugzeuge zur Schau tragen, deren Aufgabe zur Hälfte aus endlosem Warten besteht.
Sie ist mir so nahe, daß ich sie anfassen könnte, wenn ich die Hand ausstreckte, aber ich spüre, daß ich es nicht tun werde: Ich bekomme allmählich Angst vor ihren Reaktionen. Ihr Körper, dessen Zierlichkeit und Biegsamkeit ich so bewunderthabe, erscheint mir plötzlich steif und hart; unvorstellbar, daß ihre Arme sich um meinen Hals schlingen könnten. Ich starre sie an, und die Kehle schnürt sich mir zu. Wenn mir, wie Robbie meint, nur mehr wenig Zeit zu leben bleibt, so ist das wenige noch zuviel, den Schmerz über ihren Verlust zu ertragen.
»Mademoiselle«, sagt Madame Murzec, »ich glaube, Mr. Sergius möchte Sie um etwas bitten.«
Die Stewardess wendet mir den Kopf zu. Und abermals trifft mich ein furchtbarer Schlag. Ihre Augen sind leer. Höflich, aber leer.
»Brauchen Sie etwas, Mr. Sergius?« fragt sie beflissen. Ich öffne den Mund und stelle fest, daß ich kaum Kraft zum Sprechen habe.
»Sie sehen«, sage ich ziemlich undeutlich.
»Gehen?«
»Sie sehen.«
Sie wirft einen flüchtigen Blick in die Runde und deutet ein verlegenes Lächeln an, gefolgt von einem nachsichtigen Flunsch.
»Bitte, Mr. Sergius«, sagt sie mit einer Munterkeit, die nicht echt klingt, »Sie sehen mich.«
Ihr Mienenspiel, das unter der gespielten Anteilnahme soviel Gleichgültigkeit verrät, durchbohrt mich wie ein Dolch. Unmöglich, sie kann sich in so kurzer Zeit nicht so verändert haben. Ich stelle mir erneut dieselbe verzweifelte Frage: Ist sie es wirklich, die so spricht?
Ich mache einen letzten Versuch.
»Mademoiselle, würden Sie … meine Hand halten?«
Mehr dem Kreis zugewandt als mir, zeigt sie wieder dieses verlegene Lächeln, zuckt unmerklich die Schultern und sagt leichthin in herablassendem Ton: »Gewiß doch, Mr. Sergius, wenn es Ihnen Freude macht.«
Der Ton besagt, daß die Launen eines Schwerkranken durchaus entschuldbar sind. Die Stewardess läßt eine Sekunde verstreichen und ergreift dann mit Vorbedacht meine Hand. Bei dieser Berührung erwacht in mir neue Hoffnung, die aber sofort verlischt. Ich erkenne die Finger der Stewardess nicht wieder. Sie bleiben gefühllos, reglos, ohne Zärtlichkeit. Sie halten meine Hand wie irgendeinen bedeutungslosen Gegenstand,den man genausogut auf ein Möbelstück legen und dort vergessen könnte. Eine unmenschliche Berührung, von Zärtlichkeit so weit entfernt wie die Geste des Arztes, der Ihnen den Puls fühlt.
Dieser Augenblick ist schrecklich. Ich tauche auf den Grund jener Verzweiflung, bei der man ungläubig vor einer Situation steht, die man nicht begreift. Denn selbst wenn ich mir eingestehe, daß die Szene in der Kabine nur eine Halluzination war, wie soll ich deuten, was ich von Anbeginn für ein zärtliches Einvernehmen zwischen der Stewardess und mir gehalten habe? Da war ich noch bei guter Gesundheit, befand mich in einem normalen Zustand, hatte keinerlei Drogen zu mir genommen.
Ich lasse ihre Hand los, schließe die Augen, versuche nachzudenken, was nicht leicht ist, denn gleichzeitig hält mich die Todesangst umklammert.
Ich ziehe eine Möglichkeit in Betracht: Die Stewardess hat wirklich Zärtlichkeit für mich empfunden, aber der BODEN hat sie auf mir unbekanntem Wege wissen lassen, daß ich ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig sei. So hat sie mich auf den Platz eines einfachen »Passagiers« unter vielen verwiesen. Selbst auf der Erde kann eine keimende Neigung zerstört werden, wenn sich ein Mädchen seiner »besten Freundin« anvertraut, die den Verehrer herabsetzt und verspottet.
Aber es gibt auch eine
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