Madrapour - Merle, R: Madrapour
weit her. Die Fortschritte sind bescheiden – sowohl im Stoizismus als auch in der Sorge um die anderen.
Aber ich tauche jetzt aus dem Abgrund auf, es gelingt mir, meine Reisegefährten wieder zu sehen und zu hören. Vor allem Blavatski, der schon wieder genug Lebenskraft besitzt, um mit dem Inder die Klinge zu kreuzen.
»Ich verstehe nicht recht Ihre Beweggründe, Monsieur. Istes ein revolutionäres Ideal oder die Hoffnung auf ein Lösegeld?«
»Weder das eine noch das andere«, sagt der Inder.
Eine irritierende Antwort, die einen Blavatski jedoch nicht zu bremsen vermag.
»Wie aber wollen Sie den kaltblütigen Mord an einem oder mehreren unschuldigen Menschen rechtfertigen?« fährt er fort.
»Niemand ist jemals unschuldig«, sagt der Inder, »die Weißen und die Amerikaner noch weniger als andere. Denken Sie daran, welche Schandtaten Ihre Landsleute an den farbigen Völkern verübt haben.«
Blavatski errötet.
»Wenn Sie diese Schandtaten verurteilen, müssen Sie erst recht jene andere verurteilen, die zu begehen Sie im Begriff sind«, sagt er mit zitternder Stimme.
Der Inder läßt ein kurzes trockenes Lachen hören.
»Es gibt dafür kein gemeinsames Maß! Was ist die Hinrichtung von ein paar Weißen – so vornehm sie sein mögen – im Vergleich zu dem Völkermord, den die Weißen in Amerika, Afrika, Australien und Indien verübt haben?«
»Aber das ist doch Vergangenheit«, sagt Blavatski.
»Es ist für Sie sehr bequem, das alles zu vergessen«, sagt der Inder. »Bei uns hat es Spuren hinterlassen.«
Blavatski ballt die Hände auf seinem Sessel und sagt voller Entrüstung: »Sie können uns trotzdem nicht für die Verbrechen der Vergangenheit verantwortlich machen! Die Schuld eines Menschen ist immer persönlich, niemals kollektiv!«
Der Inder sieht Blavatski fest an. Diesmal ist es ein Blick ohne Ironie und sogar ohne Feindseligkeit.
»Einen Moment, Mr. Blavatski, seien Sie aufrichtig«, sagt er besonnen. »Sprechen Sie denn heute das deutsche Volk völlig frei von dem Völkermord, der vor dreißig Jahren am jüdischen Volk verübt wurde? Und zittert nicht noch heute etwas in Ihnen, wenn Sie das Wort ›Deutschland‹ aussprechen?«
»Wir kommen vom Thema ab«, sagt Caramans, und sobald er den Mund öffnet, weiß ich, daß uns eine Rede à la française bevorsteht, klar, logisch, wohlartikuliert, die aber absolut nichts mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun hat. »Letzten Endes geht es hier weder um Juden noch um Deutsche, sondern um eine französische Chartermaschine, die in Paris gestartetist und die vorwiegend französische Staatsbürger an Bord hat. Und ich möchte unseren Abfangjäger (so bezeichnet er den Inder) darauf aufmerksam machen, daß Frankreich nach zwei sehr schmerzlichen Kriegen seine Entkolonisierung abgeschlossen hat, daß es überall in der Welt ein Freund der unterentwickelten Länder ist und daß es sich in Sachen Entwicklungshilfe diesen Ländern gegenüber nicht kleinlich zeigt.«
Der Inder lächelt.
»Auch nicht bei Waffenverkäufen.«
»Die unterentwickelten Länder haben das Recht, ihre Selbstverteidigung zu gewährleisten«, sagt Caramans pikiert.
»Und Frankreich seine Profite. Und was wollen Sie uns weiter sagen, Monsieur Caramans?« fährt der Inder mit beißender Ironie fort. »Daß der BODEN auch französisch ist?«
»Durchaus möglich«, erwidert Caramans, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Inder lacht kurz auf.
»Wenn der BODEN französisch ist, dann ist ja alles in Ordnung, und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Monsieur Caramans! Selbstverständlich wird der BODEN seine ›Staatsangehörigen‹ (er betont das Wort mit hämischer Miene) nicht fallenlassen, und in einer Stunde, Pardon (er schaut auf seine Uhr), in fünfundvierzig Minuten (bei dieser Präzisierung läuft es mir kalt den Rücken hinunter) werden wir gelandet sein.«
»Trotzdem besteht die Möglichkeit, daß die Funkanlage, die Monsieur Pacaud vergeblich gesucht hat, nicht sendet«, sagt Caramans mit zitternder Lippe. »In einem solchen Fall hat der BODEN Ihre Forderung und damit die unmenschliche Erpressung gar nicht gehört: er wird also nicht darauf eingehen können.«
Ich finde, daß Caramans den Inder mit den Worten »inhuman blackmail« nicht ohne einen gewissen Mut herausfordert und damit Gefahr läuft, das erste Opfer zu werden. Aber der Inder zuckt mit keiner Wimper. Er lächelt. Caramans gegenüber bezeigt er bei weitem nicht soviel Feindseligkeit wie Blavatski und
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