Madrapour - Merle, R: Madrapour
Hände zittern, steht Mrs. Boyd, ihre Nachbarin zur Linken, bereitwillig auf und streicht, ein pausbäckiger Engel mit lockigem Haar, Butter auf die Toastscheiben.
Sie macht dabei ein so gieriges Gesicht, daß man fast befürchten muß, sie wolle alles selbst verschlingen. Doch ich verleumde sie. Liebevoll reicht sie der Murzec eine Scheibe nach der anderen, und jedesmal schaut die Murzec mit ihren blauen Augen demütig und dankbar zu ihr auf. Ich bin wohl als einziger so taktlos, mich daran zu erinnern, daß die Murzec Mrs. Boyd bei der Landung als Vielfraß bezeichnet hatte, der kaum mehr als »Mund, Eingeweide und After« sei. Eine »etwas lebhafte Bemerkung«, wie Caramans so treffend sagen würde, und ich kann mich nur schämen, solche Erinnerungen zu haben,die mit den Empfindungen des Kreises so wenig im Einklang stehen.
Im selben Moment erkenne ich in den japanischen Augen von Mrs. Banister – schön und leuchtend, aber nicht eben sanftmütig – ein verdienstvolles Bemühen, ihrerseits die Kommentare der Murzec über ihre aristokratischen Weiberröcke und deren Anhängsel zu vergessen.
Kurzum, in uns und um uns nur guter Wille, ein Tugendrausch, der vermutlich in unseren Augen die Feigheit wiedergutmachen soll, die wir bei der Auslosung an den Tag gelegt haben. Mehr noch bin ich allerdings darüber verwundert, wie wenig wir erpicht sind zu erfahren, was die Murzec auf der Erde erlebt hat und auf welch unerklärliche Weise sie wieder an Bord gelangt ist. Je mehr ich über unsere Zurückhaltung nachdenke, um so bezeichnender erscheint sie mir.
Bezeichnend inwiefern? Ich will es erklären, auch wenn ich mich damit der Kritik ausliefere. Uns allen wohnt ein Instinkt inne, der uns Kenntnis gibt von dem, was wir erleben werden. Davon bin ich fest überzeugt. Die Seher in früherer Zeit
sahen
die Zukunft, weil ihr Blick nicht wie bei uns von der Weigerung des Menschen verdunkelt wurde, sein eigenes Schicksal im voraus zu kennen. Ich wiederhole meine Überzeugung: die Vision des uns vorbestimmten Schicksals wohnt jedem von uns inne. Wir könnten uns ihrer erfreuen – aber freut man sich über ein Vorauswissen, das früher oder später in den Tod mündet? – , hätten wir nicht zwischen der Vision und uns die Mauer unserer Verblendung errichtet.
Unsere Überschwenglichkeit ist dafür ein sprechender Beweis. Wir haben keine Eile, die Murzec anzuhören. Denn was sie uns zu sagen hat, das spüren wir, wird unsere Angst verdoppeln. Und nach allen unseren Erlebnissen sind wir nur darauf bedacht, sie zu betäuben. Ja, das ist im Augenblick unser lebhaftester Wunsch: das hektische Treiben des Lebens vergessen, in eine glückliche Dumpfheit gleiten, zu der uns die Wärme, das Licht, die wiedergewonnene Bequemlichkeit, ein voller Magen und die mit beruhigender Monotonie surrenden Flugzeugmotoren verleiten.
Die in uns schlummernden Kassandras vergessend, stellen wir an der Oberfläche unseres Bewußtseins folgende Überlegung an: Da die Chartermaschine abgeflogen ist, wird sieauch irgendwo ankommen. Und warum nicht in Madrapour? Flugzeugentführung, Geiselnahme, Todesdrohung gegen Michou, Vertreibung der Murzec, alles »Peripetien«, wie Caramans sagen würde. Jetzt sind die Luftpiraten weg, Michou ist gesund und munter, die Murzec wieder bei uns, also kann die Chartermaschine ihren Flug fortsetzen.
Letzten Endes leben wir in einer zivilisierten Welt – der unseren, der westlichen –, die uns sogar noch in der Luft beschützt. Man sollte sich nicht über die Maßen den Kopf zerbrechen. Alles wird sich schließlich zum Guten wenden; der Verlust unserer Wertsachen ist ein unangenehmer Zwischenfall, wie er jedem beliebigen Touristen an jedem beliebigen Ort widerfahren kann. Jetzt, da die Nacht fortgeschritten und unser Gewissen nach dem Empfang für die Murzec beruhigt ist, brauchen wir ein paar Stunden erquickenden Schlafs. Bei Tagesanbruch wird uns alles leichter und klarer erscheinen.
Das Schweigen dauert an, alle sind schläfrig, jeder zieht sich auf sich selbst zurück. Verschwommen sehe ich die Murzec mit ihren langen gelben Zähnen das letzte Stück Toastbrot zermalmen. Aber mein Interesse wird lebhafter, als die Stewardess sich erhebt. Es macht mir unendliche Freude, allen Bewegungen ihrer hübschen Gestalt mit den Augen zu folgen.
Mit rein berufsmäßigem Lächeln und ohne jene übermäßige Freundlichkeit, die der Kreis an die Murzec verschwendet, nimmt die Stewardess ihr das Tablett aus der Hand und
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