Madrapour - Merle, R: Madrapour
ein Zitat von Lukrez«, setzt er mit einer Anwandlung von Pedanterie hinzu.
»Na gut, und was haben Sie in dem Augenblick gemacht?« fährt Blavatski fort.
»Ich habe die Treppe betreten.«
»Und sind Ihnen die Inder nicht gefolgt?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Am Fuße der Treppe habe ich auf sie gewartet.«
»Warum?«
»Mich hatte ein Gefühl des Entsetzens gepackt.«
Madame Murzec hat ohne jedes Pathos, leise und mit gesenktem Blick gesprochen. Niemand, nicht einmal Blavatski, greift diese Worte auf.
»Gut«, hakt er fast im gleichen Moment ein, »was geschah dann?«
»Plötzlich habe ich die Inder in zehn Meter Entfernung vom Heck des Flugzeugs gesehen.«
»Sie haben sie gesehen?« ruft Blavatski triumphierend aus, als ob er die Murzec ertappt hätte. »Es war finstere Nacht!«
»Der Inder hatte seine Taschenlampe angemacht. Ich sah ihn und seine Begleiterin von hinten. Sie gingen ohne jegliche Eile ihres Weges. Ihre Umrisse zeichneten sich schwarz im Schein der Taschenlampe ab. Ich konnte den Turban des Inders und die Kunstledertasche erkennen, die er in der Hand trug. Sie pendelte beim Gehen hin und her.«
»Na also«, sagt Blavatski und hebt gebieterisch die Stimme, »entweder sind die Inder vor Ihnen die Treppe hinuntergegangen, oder sie sind nach Ihnen hinuntergegangen.«
»Es gibt eine dritte Möglichkeit«, sagt die Stewardess sanft.
Aber Blavatski nimmt ihren Einwurf gar nicht zur Kenntnis. »Antworten Sie endlich, Madame!« sagt er wütend, die Augen starr auf die Murzec gerichtet.
»Aber ich bin doch dabei«, sagt die Murzec mit einer Härte in der Stimme, die darauf schließen läßt, daß die alte Murzec vielleicht doch nicht völlig tot ist. »Glauben Sie mir, Monsieur: die Inder können nicht nach mir die Treppe hinuntergegangen sein. Ich habe unten auf sie gewartet. Ich hätte ihre Schritte gehört. Sie hätten an mir vorbeikommen, mich streifen müssen. Und vor mir, nein, Monsieur Blavatski, das ist unmöglich. Als der Inder jene Worte gesprochen hat, die Sie in Ihrer Dummheit als komisch bezeichneten …«
Betretenes Schweigen. Madame Murzec erstarrt, senkt die Augen, schluckt, verschränkt die Hände über den Knien und sagt mit Tränen in den Augen und voller Zerknirschung:
»Verzeihen Sie mir, Monsieur. Ich hätte nicht sagen dürfen ›in Ihrer Dummheit‹. Und ich bitte Sie, meine Entschuldigung anzunehmen.«
Schweigen.
»Aber sehen Sie«, fährt sie fort in einem vor Eifer zitternden Ton, »ich finde, der Inder hat
bewundernswerte
Worte gesprochen,als wir das Privileg hatten, ihn in unserer Mitte zu haben.«
»Das Privileg!« ruft Madame Edmonde und schlägt sich auf den Schenkel. »Scheißprivileg! Das haben wir teuer bezahlt!«
Sie hätte sicher in diesem Stil weitergeredet, wenn Robbie nicht mit schmeichelnder Grazie seinen langen Arm ausgestreckt und seine schmalen Finger auf ihren Mund gelegt hätte.
Blavatski sieht die Murzec an.
»Lassen Sie es gut sein wegen der Entschuldigung«, sagt er und verbirgt seine Verlegenheit unter halb echtem, halb gespieltem Freimut. »Ich selbst bin vielleicht etwas zu weit gegangen. Auf jeden Fall respektiere ich Ihre Überzeugungen«, fügt er hastig hinzu.
Die Murzec holt ein Taschentuch aus ihrer Tasche und tupft sich die Augen, deren Blau durch die Tränen intensiver geworden ist.
»Machen wir weiter«, sagt Blavatski.
»Gut«, sagt die Murzec sanft, aber mit unbezähmbarer Hartnäckigkeit, »sehen Sie, ich bin meiner Sache absolut sicher. Als der Inder seine Ansprache hielt, stand er hinter Monsieur Chrestopoulos. Ich stand neben dem Exit, starr von der Kälte und dem eisigen Wind. Bei seinem letzten Wort bin ich hinausgegangen. Es ist also unmöglich, daß er vor mir auf der Treppe war.«
»Na schön«, sagt Blavatski mit funkelnden Augen. Er schiebt sein Kinn vor und streckt seine kurzen Arme von sich. »Also ist zwei mal zwei nicht vier! Also sind die Inder weder vor noch nach Ihnen ausgestiegen! Und sind dennoch draußen! Wenn man den Anspruch erhebt, sich vom ›
Rad der Zeit
‹ loszureißen (kurzes höhnisches Lachen), kann man wohl auch durch die Wand des Flugzeugrumpfes entschwinden!«
»Aber es gibt eine dritte Möglichkeit«, sagt die Stewardess.
Und wieder fegt Blavatski ihren Einwurf mit einer Geste beiseite.
»Madame Murzec, noch einmal. Sie stehen am Fuße der Treppe: was geschieht da?«
»Ich habe es bereits gesagt«, antwortet die Murzec erschauernd mit gesenktem
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