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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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zuvor in der Angriffslust. »Ich wäre unter Ihnen nicht am rechten Platz«, fügt sie mit gesenkten Augen hinzu.
    Der Kreis protestiert im Chor. Denn das ist jetzt aus dem Kreis geworden: ein antiker Chor, der dem unglücklichen Helden Sympathie und Ermutigung zuteil werden läßt. Die individuellen Reaktionen sind in den Hintergrund getreten: selbst Mrs. Banister, eine Löwin, die zum Lamm wurde, blökt mit uns. Dieselbe Verbissenheit, mit der wir Madame Murzec vertrieben haben, legen wir nun an den Tag, um sie in den Kreis zurückzuholen. Sie umringend wie Bienen ihre Königin und auf dem engen Raum mit einem gewissen Vergnügen uns dichtaneinanderdrängend – denn jedes Gewühl, auch wenn wir dagegen protestieren, befriedigt unser tiefes Bedürfnis nach Kontakt –, sind wir im Begriff, in vollen Zügen den Strom des Verzeihens und der Güte auszukosten, der von einem Herzen zum anderen fließt, anschwillt und sich über die Murzec ergießt.
    Wir sind uns einig: sie kann nicht bleiben, wo sie ist. Die Sitze sind unbequem, der Platz für die Füße ist beengt, die Beleuchtung schlecht und die Heizung unzureichend. Außerdem braucht sie nach aller Unbill moralischen Beistand, keiner von uns kann es hinnehmen, sie an den Felsen der Reue geschmiedet zu sehen, während die Geier ihre Leber herauspicken, mit der es ohnehin nicht weit her ist.
    Unter diesem warmen, brüderlichen Regen entspannt die Murzec sich. Immer noch an ihren Felsen geklammert, wirft sie uns reihum dankbare Blicke zu und bedankt sich obendrein bei jedem einzeln, insbesondere bei Madame Edmonde, die ihren kräftigen Arm um Robbies schmale Taille geschlungen hat und der Unglücklichen zum wiederholten Male beteuert,
daß sie da nicht bleiben kann und sich was holen, wo doch alle sie bitten, es wieder mit uns zu versuchen.
    Der Stein wird schließlich durch Caramans’ Kasuistik ins Rollen gebracht. Korrekt, untadelig, die Lippe hochgezogen, die Augenlider halb gesenkt (und anscheinend unempfänglich dafür, daß Michou neben ihm steht, an ihn geschmiegt, aber Michou besitzt eben leider kaum Rundungen), hat er sich in überaus ernsten und wohllautenden Tönen Gehör verschafft, um zunächst zu betonen, daß er seinerseits niemals gefordert habe, Madame Murzec in die Touristenklasse zu verweisen (Seitenblick auf Blavatski), und daß er ihren Verbleib dort für wenig wünschenswert halte. Wenn Madame Murzec das Bedürfnis habe, ihre möglicherweise etwas lebhaften Bemerkungen zu bereuen (in unserer augenblicklichen seelischen Verfassung erscheint uns schon diese so überaus diskrete Anspielung fehl am Platze), könne sie das ebensogut in der ersten Klasse tun, Seite an Seite mit ihresgleichen; öffentlich vorgetragen, werde ihr
mea culpa
um so verdienstvoller sein. Außerdem wäre die Stewardess bei gegenteiliger Auffassung gezwungen, Madame Murzec sämtliche Mahlzeiten in die Touristenklasse zu bringen, was ihren Dienst sehr erschweren würde – und wolle sie ihr das antun?
    Man spürt genau, daß Caramans in der Kirche die Säule ist, die das Weihwasserbecken trägt, und die Murzec der Frosch, der darin hockt. Kurzum, damit die Menschen einander verstehen, müssen sie eine gemeinsame Sprache sprechen. Ich spüre, daß Caramans die Partie gewinnen wird, als er zum Schluß das Adjektiv »schmerzlich« gebraucht und damit die Situation benennt, die durch die Segregation eines der Passagiere im Flugzeug entstehen würde. Dieses emotionsgeladene Wort mit seinem Sakristeigeruch bahnt sich einen Weg zum bronzenen Herzen der Murzec und öffnet es wie eine Frucht. Ihre Züge verlieren die Härte, ihre Lippen werden weicher. Sie gibt nach.
    Das ist für den Kreis ein Augenblick des Triumphes und der Liebe. Von allen Seiten eskortiert, schreitet die Murzec in die erste Klasse und läßt sich mit einem Seufzer auf ihrem alten Platz nieder. Im Vollgefühl unseres guten Gewissens begeben wir uns zu unseren Sesseln. Wir starren die Murzec an. Wir haben nur Augen für sie.
    Ein Zittern durchläuft den Kreis. Von einem zum anderen pflanzt sich eine starke innere Bewegung fort, die andächtiges Schweigen erfordert, damit wir sie auskosten können. Wir spüren die Tragweite dieses Schweigens. Eine neue Seite ist aufgeschlagen. Der Kreis formiert sich wieder: der Sündenbock ist heimgekehrt.
    Die folgenden Minuten verrinnen in allgemeiner Eintracht. Die Murzec bekommt aus den Händen der Stewardess ein Tablett. Sie trinkt zuerst den kochendheißen Kaffee; da ihre

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