Madru
tauchte nicht nur in seinen Träumen nachts auf, sie kam auch als Tagtraum wieder, was dazu führte, daß er zerstreut war, Arbeiten, die ihm aufgetragen wurden, viel zu langsam ausführte, Leute zu grüßen vergaß, die er hätte grüßen sollen. Das trug ihm Ärger und Prügel ein.
Madru mochte sich noch so entschieden vornehmen, er wolle wenigstens tagsüber nicht mehr an Eigar denken – plötzlich, an einem sonnigen Morgen oder an einem regnerischen Nachmittag, gewannen ihr Gesicht, ihr Körper, ihr Duft für ihn wieder eine wunderbare Deutlichkeit, und er vermochte sich diesem Gaukelspiel der Sinne nicht zu entziehen.
Der Zustand verliebter Verwirrung bei ihm wurde immer schlimmer. Die Überzeugung, der Traum werde sich, dank der Kraft seines Wünschens, irgendwann in Wirklichkeit verwandeln, war und blieb unbedingt. Schlimm war, daß selbst die Mutter mit ihm schalt und nörgelte, sie wisse nicht, was in ihn gefahren sei. Madru war klar, daß von den Menschen für die Verwirklichung seines Wunschtraums keine Hilfe zu erwarten sei. So beschloß er, die Götter in Anspruch zu nehmen.
Er lief eines Tages zu dem steinernen Altar in der Felsengrotte, in der jene Quelle entsprang, die die Bewohner von Skolund mit etwas metallisch schmeckendem Trinkwasser versorgte. Möndin hieß die Gottheit, die dort verehrt wurde. Von ihr hatte der Junge gehört, sie sei die Mutter aller Dinge, die Schöpferin dieser Welt. Wenn jemand die Kraft besaß, Träume wahr werden zu lassen, so sagte er sich, dann sie.
Dreigestaltig sah der Junge die Möndin in der Quellgrotte dargestellt: als Mädchen, Mutter und altes Weib; und in der unterschiedlichen Altersgestalt hielt sie Pfeil und Bogen, Ähre und Apfel, eine Mondsichel und eine Schlange in den Händen. Der Altar mußte uralt sein, und man ahnte die Insignien ihrer Macht mehr, als daß man sie klar erkannte, verwaschen von Regenschauern und Bachschwall und zerfressen von Frost wie sie waren.
Die Frauen wirkten auf den Jungen wie aus dem Erdinneren her-aufgestoßen. Möglich auch, wie andere erzählten, daß sie den Sternbildern des Himmels entsprungen und auf einem mit heiligen Tieren bespannten Wagen heraufgefahren waren aus dem Land hinter dem Horizont. Das alles war lange her, und es erschien nur zu verständlich, daß mal diese und mal jene Geschichte davon erzählt wurde. Gemeinsam aber war allen, daß dabei ein Wunder geschah. Und nicht den geringsten Zweifel konnte es geben, daß die Möndin, die eine und drei Frauen zugleich war, große Macht hatte. Sie vermochte die Wellen des Meeres kommen und gehen zu lassen. In ihrer Hand lag es, ob die Frauen leicht gebaren oder unter reißenden Schmerzen. Sie ließ die Ernten aufwachsen und schützte die trächtigen Tiere. Sie bescherte oder verweigerte den Männern Kriegsglück und Jagdbeute. Sie trennte die Jahreszeiten voneinander. In ihre Gewalt gegeben war sogar, ob der Tod eines Menschen sich rasch vollzog oder ob er erst nach langen schlimmen Leiden und Schmerzen eintrat.
Vor dem Altar im Quellheiligtum stand der Junge, musterte jede der drei Gestalten, abwägend, welcher er am meisten Kraft und Macht zutrauen, vor welcher er folglich sein Opfer, ein Jagdmesser, niederlegen sollte. Armselig erschien ihm seine Gabe, verglichen mit den Schmuckstücken aus Gold und Silber, mit den Bronzeschwertern, Streitäxten und reichverzierten Kriegslanzen, die andere Bittsteller hier hinterlassen hatten.
Als er sich endlich entschloß, das Messer der Mittleren zu geben, geschah dies, weil er sich einbildete, sie sähe seiner Mutter ähnlich. Dabei murmelte er: »Hilf, daß mein Liebeskummer vorbeigeht. Hilf, daß sich alles ins Glück wendet. Es steht in deiner Macht. Dessen bin ich gewiß!« Er konzentrierte seinen Blick auf die Darstellung der Göttin in ihrer mütterlichen Gestalt.
»Sprich im Schlaf zu Eigar«, flüsterte er ihr zu. »Sie soll Mut haben. Ist denn das so schwer?« Er war ganz empört, schimpfte nun geradezu. »Versteh doch: es mangelt ihr nur an ein bißchen Mut. Das ist alles. Du brauchst keinen Liebeszauber über sie zu werfen. Sie hat mich immer geliebt. Sie wird mich immer lieben. Wenn sie jetzt keinen Mut faßt, wird sie das gewiß später bereuen. Gib ihr doch dieses kleine bißchen Mut, das nötig ist. Sie schämt sich, weil sie sich in einen Sklaven verliebt hat. Aber wer weiß, vielleicht stammt mein Vater aus einem edleren Geschlecht als der ihre. Was kann ich dafür, daß ich der Sohn einer Sklavin
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