Maechtig, mutig und genial
angesichts der großen Beliebtheit von Bachelet in der Bevölkerung zieht Alvear ihre Kandidatur zurück. Die Sozialistin ist Präsidentschaftskandidatin der
Concertación
. Bei der Wahl am Dezember 2005 erhält sie 45,95 Prozent der Stimmen, in der Stichwahl am 15. Januar 2006 kann sie 53,5 Prozent auf sich vereinigen, ihr konservativer Gegenkandidat, der Multimillionär und heutige Präsident Sebastián Piñera lediglich 46,5 Prozent. Michelle Bachelet wird die erste Präsidentin Chiles, die sechste in Lateinamerika.
Dabei stand sie für sämtliche chilenischen Todsünden: Sie ist Sozialistin, geschieden und bekennende Atheistin. Und eine Frau. Für die Soziologin und Meinungsforscherin Marta Lagos ( S. 357 ) verkörpert Bachelet obendrein das Drama Chiles, »aber auch die Fähigkeit, sich immer neu zu erfinden«. Sie wirkt sanft, aber überzeugend, sie kann auf Menschen zugehen und ihr Lächeln nimmt die Menschen für sie ein. Und sie identifiziert sich mit den Problemen der Frauen und der Jugend.
Im Wahlkampf hatte sie vor allem in der Wirtschaftspolitik auf Kontinuität gesetzt, aber auch mehr Bürgernähe und mehrDemokratie versprochen, sowie mehr soziale Gerechtigkeit. Vor allem wollte sie die in Chile besonders ausgeprägte Kluft zwischen Arm und Reich verringern.
Nach ihrem Amtseid stellt sie auf dem Balkon der Moneda ein »gerechteres, humaneres, solidarischeres und egalitäreres Vaterland« in Aussicht, und ihrem ersten Kabinett gehören gleich viele Frauen wie Männer an. Bereits am 13. März verfügt sie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung für über 60-Jährige sowie eine Erweiterung der Liste der Krankheiten, die bei Bedürftigen kostenlos behandelt werden. Im ersten Amtsjahr werden 800 neue Kinderkrippen eingerichtet, ein Wintergeld für die Ärmsten beschlossen und eine Gesundheitsreform in Angriff genommen.
Doch bereits im Mai weht ihr ein scharfer Wind entgegen. Im ganzen Land fordern Schüler eine Reform des Schulsystems. Sie klagen finanzielle Hilfen für ärmere Schüler und die Abschaffung von Pinochets Ausbildungsgesetz ein, das durch die Qualitätsunterschiede privater und öffentlicher Ausbildung die soziale Ungleichheit fördert. Es kommt zu Unterrichtsboykotts und Ausschreitungen, die sich auf das ganze Land ausdehnen. Bachelet reagiert zunächst nicht auf diese »Revolution der Pinguine« – die Schüler werden wegen ihrer schwarz-weißen Schuluniformen als Pinguine bezeichnet –, weil sie sich von Gewalt nicht unter Druck setzen lassen will. Am 30. Mai gehen dann 800 000 Oberschüler auf die Straße, trotz der inzwischen vom Erziehungsminister eingerichteten Dialogforen. Erst jetzt kündigt Bachelet in einer Fernsehansprache Lösungen für die Forderungen der Schüler an. Am 9. Juni hören die Proteste auf. Dennoch hagelt es Kritik an ihrer Führungsfähigkeit, weil die Koordination innerhalb der Ministerien nicht reibungslos funktioniert und sie dafür ihre Minister öffentlich gerügt hat.
Im Juli geriet sie erneut ins Kreuzfeuer der Kritik, als bekannt wurde, dass Sozialwohnungen von nur neun Quadratmetern Größe an Bedürftige übergeben worden waren, derenQualität obendrein zu wünschen übrigließ. Daraufhin wurde eine neue Wohnungsbaupolitik beschlossen, die auf Zuschüssen basiert. Am Ende ihrer Amtszeit war das Wohnungsdefizit im Land um 14,3 Prozent gesunken.
Als am 10. Dezember 2006 Augusto Pinochet im Militärhospital stirbt, beschließt sie, dass er kein Staatsbegräbnis erhalten soll, um den illegitimen Charakter seiner Präsidentschaft deutlich zu machen. Die Ehren eines Oberbefehlshabers werden ihm allerdings gewährt, und Verteidigungsministerin Vivianne Blanlot nimmt an seiner Beerdigung teil.
Zu Beginn von Bachelets Mandat war der Kupferpreis explodiert, was ihr einen Haushaltsüberschuss von sechs Milliarden US-Dollar bescherte. Sie beschloss, das Geld zu sparen – trotz aller Forderungen auch aus ihrer eigenen Partei, in das Sozialsystem zu investieren. Während der Wirtschaftskrise 2009 kam ihr dies zugute, denn die Reserven erlaubten ihr, ein Programm zur Stimulierung der Wirtschaft in Höhe von vier Milliarden US-Dollar aufzulegen. Und nach dem verheerenden Erdbeben vom Februar 2010 zeigte sich erneut, dass ihr Beschluss zu sparen richtig war.
Im Laufe ihrer Amtszeit stand sie immer wieder in der Kritik. Zwar nahmen die Reallöhne in ihrer vierjährigen Präsidentschaft um durchschnittlich 2,8 Prozent zu, aber der Gewerkschaftsdachverband CUT warf
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