Mädchen im Moor
ja auch Frau Kronberg sagen können, aber da habe ich Angst, daß sie mich nicht versteht.«
»Heraus mit der Sprache. Was ist los?«
»Sie haben doch Verständnis für ein Ehrenwort …«
»Ehrenwort?« Dr. Schmidt war ehrlich verblüfft. »Wem hast du ein Ehrenwort gegeben?«
»Vivian v. Rothen.«
»Ach –«
»Ja. Sie hat ein Bild versteckt … im Stall … hinter der Futterkiste. Das Foto von ihrem Reitpferd, das sie so liebt. Ich habe mein Ehrenwort gegeben, sie nicht zu verraten …«
»Und warum verrätst du sie nun doch?«
»Das ist kein Verrat, Herr Direktor … ich wollte Sie um etwas bitten.« Hilde Marchinski holte tief Atem. »Ich weiß, wie sehr Vivi an diesem Bild hängt. Als sie nun zum Außendienst mußte, ging das so schnell, daß sie es nicht einpacken konnte. Ich weiß aber auch, daß sie traurig ist, wenn sie ohne den Pferdekopf ist. Sie wissen doch, daß manche Menschen so sind … sie klammern sich an solche kleinen Dinge. Wenn … wenn ich morgen mit dem Außendienst ausnahmsweise raus drüfte und ihr das Bild bringen könnte … ich kann mittags ja wieder zurückgebracht werden … dann würde sich Vivi sehr freuen. Sie ist ein ganz komischer Mensch, Herr Direktor … wir kennen sie ja alle genau … das Pferd ist ihr ein und alles … sie sitzt bestimmt herum und weint, weil das Bild nicht bei ihr ist –«
Hilde Marchinski hielt den Blick gesenkt. Es sah aus, als leide sie mit und begänne auch gleich zu weinen. Dr. Schmidt brauchte eine Zeit, um seine Verwunderung zu überwinden. Er hatte die merkwürdigste Bitte in seiner Laufbahn gehört. In den Jahren seiner Gefängnispraxis war viel an ihn herangetragen worden, unmögliche Bitten, die die Häftlinge mit ungeheurem Wortschwall vortrugen und begründeten … das hier war einmalig und in seiner Kindlichkeit fast grotesk.
Er war geneigt, ›nein‹ zu sagen und Hilde Marchinski wegzuschicken. Aber dann sprach in ihm der Psychologe und Idealist. Gerade bei Vivian v. Rothen waren solche kleinen Dinge wichtig. Da er nun wußte, wie leer sie ihre eigene Welt sah, konnte das Foto eines Pferdekopfes alles für sie bedeuten, eine Freude, die ihr allein gehörte und an der sie sich aufrichtete. Mit einem ›nein‹ konnte man hier vieles zerstören … auch wenn es ein logisches ›nein‹ war von der Nüchternheit des Strafvollzugsbeamten aus. Das aber war es, was Dr. Schmidt mit Wildmoor abschaffen wollte … »Wir sind nicht nur Vollstrecker einer Strafe«, hatte er einmal gesagt, »sondern Erzieher neuer Menschen! Da muß man oft unorthodox handeln, denn ein Leben ist keine mathematische Gleichung …«
Die Bewährung dieser Ansicht war nun da … hier stand ein Mädchen und sprach für ein anderes Mädchen eine Bitte aus, die völlig aus dem Rahmen des Bisherigen fiel.
Dr. Schmidt stand hinter seinem Schreibtisch auf und kam auf Hilde zu.
»Zeig mir mal das Bild«, sagte er.
»Es ist noch im Stall.«
»Dann gehen wir in den Stall.«
Hilde Marchinski nickte und atmete auf.
Hinter der Futterkrippe zog sie wirklich das Foto eines Pferdes hervor. Es war kein Abzug, sondern eine aus einer Illustrierten herausgerissene Seite. Dr. Schmidt schüttelte den Kopf.
»Da stimmt doch was nicht. Das ist doch aus einer Zeitschrift .«
»Vivi sagte, das sei ihr Pferd …« Hilde hob die Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Und das vermißt sie … dieses Bild?«
»Ja. Es ist kein Abend vergangen, an dem sie es nicht hinter der Futterkrippe hervorgeholt hat und zu ihm ›Gute Nacht, Pharao‹ gesagt hat.«
»Wie heißt das Pferd?«
»Pharao. Pferde haben doch oft so komische Namen.«
Das alles klang naiv und glaubwürdig. Außerdem sagte es Hilde Marchinski mit solch kindlicher Gläubigkeit, daß Dr. Schmidt überzeugt wurde, Vivian v. Rothen habe ihr leeres Herz mit diesem Pferdebild auszufüllen versucht. Wer kennt sich in der Seele eines Menschen aus?
»Gut«, sagte Dr. Schmidt und gab das Bild an Hilde zurück. »Du gehst morgen mit dem Kommando hinaus und bringst das Bild hin. Ich werde mit einem der Bauern sprechen, daß er dich hinführt.«
»Danke, Herr Direktor.« Hilde machte einen tiefen Knicks. »Vivi wird sich ja so freuen –«
Im Zimmer wartete schon Käthe Wollop mit roten Backen, als Hilde endlich zurückkam in den Block 1.
»Nun, was ist?« rief sie, als Hilde sich auf ihr Bett setzte. »Rausgeflogen biste, was?«
»Ich bin morgen bei ihr …«, sagte Hilde Marchinski ruhig und zog sich die Schuhe aus. »Um
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