Mädchen im Moor
nicht sehen –«
Und dabei blieb es. Hilde Marchinski drohte sogar damit, aus dem Bett zu springen. »Und wenn mir der Bauch wieder aufplatzt … ich will sie nicht sehen!« schrie sie wild.
Zwei Stunden brauchte Dr. Schmidt, ehe er Hilde so weit beruhigt hatte, daß sie zusagte, ihre Mutter anzuhören.
»Aber ich sage kein Wort!« rief sie.
»Einverstanden.« Dr. Schmidt atmete auf. So sehr er damit einig ging, daß Helena v. Rothen nicht mit Vivian gesprochen hatte, so viel lag ihm daran, die Begegnung Mutter-Tochter bei den Marchinskis zu beobachten. Es war ein psychologisches Experiment … er wollte ergründen, ob Hilde zu den Unverbesserlichen gehörte oder ob in ihr der winzige Keim einer guten Seele war, den man pflegen und großziehen konnte.
Am vereinbarten Tag, um die Mittagszeit, kam Lotte Marchinski mit einer Taxe auf Wildmoor an. Sie hatte Blumen mitgebracht und eine große Schachtel Pralinen. Ihr rotes Kleid war etwas zu kurz, ihr Gesicht zu grell geschminkt, ihre Bewegungen exaltiert und übertrieben. Dr. Schmidt beobachtete vom Fenster aus, wie sie den Taxenfahrer entlohnte, ihm eine Kußhand zuwarf und dann mit schwingendem Gesäß hinüber zur Anmeldung schritt.
Zehn Minuten später saß Lotte Marchinski vor ihm. Das erste, was Dr. Schmidt wahrnahm, war eine Duftmischung zwischen einem süßlichen Parfüm und Kognak. Er sah auf die übereinandergeschlagenen Beine und stellte fest, daß der Schlüpfer Lottes rosa Spitzen hatte. Das hinauf gerutschte enge Kleid ließ keine Rätsel übrig.
»Sie haben getrunken?!« sagte Dr. Schmidt streng. Lotte Marchinski rollte die Augen und lächelte süß.
»Nur ein Gläschen, Herr Direktor. Nur ein Pinnchen, hihi. Ein wenig Mut … Ich bin noch nie in einem solchen Haus gewesen und habe einem so netten und strengen Herrn gegenübergesessen.« Sie blinzelte Dr. Schmidt an, zupfte an dem unverrückbaren Rock und bemühte sich, gerade zu sitzen und so ihre hochgeschnürten Brüste zur Geltung und Besichtigung zu bringen. »Wartet mein Töchterchen schon?«
»Ihr Töchterchen ist gerade dem Totengräber von der Schippe gesprungen«, sagte Dr. Schmidt ruhig. Lotte Marchinski warf den Kopf hoch.
»Huch!« rief sie mit spitzer Stimme. »Hildekind ist krank? Das arme Würmchen …«
»Blinddarm.«
»Ach so.« Lotte beruhigte sich schnell. »Gut, daß er raus ist. Sie liegt noch zu Bett?«
»Ja, im Revier. Ich führe Sie gleich hin. Sie ist noch sehr schlapp.«
»Hildemaus war immer ein zartes Kind, Herr Direktor.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Dr. Schmidt betrachtete Lotte Marchinski wie ein Gemälde, dessen unbekannten Maler er ergründen sollte. Was geht in einer solchen Frau vor, dachte er. Was denkt sie vom Leben, was erhofft sie sich vom Leben, was ist der Sinn ihres Lebens? Es ist eigentlich müßig, so zu fragen … man kann alle Fragen, die man bereit hat, zu einer einzigen Frage zusammenziehen und eine einzige Antwort darauf geben: »Nichts!« Hier sitzt ein Mensch, der ein absolutes Nichts ist, eine Lebenserscheinung, die es eigentlich nach dem logischen Daseinsgesetz gar nicht geben dürfte. Ein jeder Mensch hat einen Zweck zu erfüllen … hier aber hockt ein Wesen, das nutzloser ist als ein Regenwurm, denn der Regenwurm selbst hat die Aufgabe, den Boden zu durchlüften. Die Aufgabe dieses Menschen dort aber ist, sich selbst zu verrotten. Er wurde in die Welt gesetzt, um sich selbst zu entmenschen.
»Noch eins, bevor Sie zu Hilde gehen: Keine lauten Worte, keine Aufregung … ich lasse Sie sonst entfernen.«
»Aber Herr Direktor.« Lotte Marchinski blinzelte wieder und dehnte die Brust. »Ich bin ganz still, ganz brav … ich bin doch eine leidgeprüfte Witwe …«
Die Begrüßung zwischen Mutter und Tochter war ein klassisches Beispiel sozialer Klassifizierung.
Hilde saß im Bett, gestützt durch drei Kissen, und hatte das Kinn angedrückt. Lotte kam ins Zimmer, schwenkte die Blumen und die Pralinenschachtel und jubelte: »Huhu, mein Käferchen. Mama ist da –«
Und Hilde antwortete schlicht: »Benimm dich nicht so dusselig, alte Nutte.«
Wen nimmt es wunder, daß Lotte einen Augenblick schockiert war und an der Tür stehenblieb. Sie sah sich hilfesuchend um, aber da war niemand. Im Nebenzimmer, dessen Tür angelehnt war, saßen Dr. Schmidt und Julie Spange und warteten auf die Dinge, die unweigerlich kommen mußten. Lotte Marchinski kam näher an das Bett und warf die Blumen und die Schachtel Pralinen auf die Decke.
»Schade,
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