Mädchen im Moor
›Sprechstundenhilfe‹ Käthe Wollop abholen wollte, sagte das, was Dr. Schmidt im stillen dachte.
»Sie werden Wildmoor nun bestimmt nicht mehr verändern – aber eines ist sicher: Dich lösen sie ab! Die Anstalt bleibt als Paradestück – nach dir wird niemand mehr fragen. Ist das die Sache wert?«
»Ja.« Dr. Schmidt sagte es ohne Zögern. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. »Ich habe es für meine Mädchen getan.«
»Himmel nochmal! Hör endlich auf, wie ein Heiliger zu reden und zu handeln!« Dr. Röhrig griff seinen Freund an den Schultern und schüttelte ihn. »Peter, wach auf! Mein Gott, lös dich doch aus deinen rosaroten Wolken! Glaubst du, die Mädchen danken es dir?«
»Nicht alle, nein.«
»Keine fünf Prozent!«
»Das wäre schon viel.« Dr. Schmidt löste sich aus dem Griff Dr. Röhrigs. »Wenn es auch nur ein Prozent wäre, lohnte es sich. Gilt ein einzelner Mensch nicht mehr? Mit einer einzigen Atombombe können wir jetzt fünfhunderttausend Menschen vernichten. Das ist imponierend, davon spricht die Welt! Aber einen einzigen Menschen zu retten, das ist zu dumm. Das lohnt sich nicht! Man zahlt Milliarden für die Vernichtung, aber ein paar lumpige Tausender für einen armen, verirrten, einen festen Standplatz für sein ferneres Leben Suchenden sind nicht da! Wenn man dies erst begreift, ist vieles gewonnen. Da bin ich ganz unwichtig –« Er ging zum Schreibtisch und holte aus dem linken Fach eine Flasche Kognak hervor. »Gestern noch habe ich versucht, die Katastrophe aufzuhalten und mich zu retten – heute weiß ich, daß man immer ein Opfer vorzeigen muß, um etwas Neues populär zu machen. Ich hatte eine ganze Nacht Zeit, das einzusehen. Und nun, Prost, Ewald – morgen kommt der alte Recke Fugger wieder nach Wildmoor.«
Plötzlich standen sie sich gegenüber. Sie konnten sich nicht mehr ausweichen, der Flur war eng und hatte nur einen Ausgang. Sie prallten fast aufeinander, als Vivian aus dem Zimmer Dr. Schmidts kam und Hilde Marchinski mit einem Putzeimer aus dem WC trat.
»Du –«, sagte Hilde Marchinski gedehnt. »Auf dich habe ich wochenlang gewartet. Nun ist es zu spät.«
»Warum hast du gewartet?« Vivian rührte sich nicht. Sie standen dicht voreinander – wenn sie sprachen, wehte der Atem über ihre Gesichter.
»Frag nicht so dämlich.« Die blasse Hand Hildes strich die roten Haare aus der Stirn. Seit zwei Tagen hatte sie die neue Stelle angetreten, als Hausmädchen in den Privaträumen Dr. Schmidts. Sie mußte putzen, Staub wischen, das Essen servieren und bei Besuch bedienen, Wäsche stopfen, Schuhe putzen, Fenster und Gläser und Bestecke polieren, Teppiche klopfen, die Böden einwachsen. Sie tat das alles mit der Lautlosigkeit einer gut geölten Maschine. Seit dem Besuch ihrer Mutter und ihrem erfolglosen Selbstmordversuch im Klosett des Krankenreviers lebte sie dahin, als habe sie keinerlei innere Regungen mehr. Sie hatte sich damit abgefunden, ihre Zeit abzusitzen und dann, in zwei Jahren, wenn sie nicht früher wegen guter Führung entlassen wurde, wieder auf die Straße zu gehen. Nicht mit Pfeifen-Willi, der war ihr zuwider geworden. Schon bei dem Gedanken an ihn wurde ihr übel. Es wird ein neuer Lude sein, dachte sie. Von denen gibt es genug in der Stadt. Man braucht sie, ein Mädchen ohne Zuhälter ist wie eine Biene ohne Wabe. Nicht jeder Kavalier, der mit dem Preis einverstanden ist, will auf der Bude bezahlen. Dann pfeift man auf den Fingern, und alles regelt sich schnell wie von selbst.
Es gab gar keinen anderen Weg für Hilde Marchinski. Sie empfand es als rührend und war Dr. Schmidt dankbar, daß er versuchte, aus ihr ein anständiges Mädchen zu machen. Sie spielte auch mit, sie tat ihm den Gefallen, sich so zu geben, als habe sie einen neuen Weg erkannt. Sie lernte schneidern, sie nähte Schürzen und Röcke, sie beschäftigte sich mit einfacher Buchführung und Rechnen und erzählte stolz: »Wenn ich wieder draußen bin, gehe ich als Näherin. Ich kann meine Prüfung ablegen und mich selbständig machen.« Aber in Wahrheit wußte sie, daß sie schon am dritten Tag nach der Entlassung nicht mehr ins Wohnheim, wo man sie einquartieren würde, zurückkehren konnte, weil sie irgendwo in der Stadt in einem Zimmer und in einem Bett mehr verdiente in einer Nacht als in einer Woche als Näherin für Schürzen und Popelinröcke.
»Du hast die Karte geklaut!« sagte Hilde Marchinski und stellte den Eimer auf den Boden. Vivian v. Rothens Gesicht bekam einen
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