Mädchen im Schnee
mir«, sagte Magdalena. »Vielleicht.«
Ernst Losjö ging ins dunkle Wohnzimmer und sank in einen Sessel. Vom Fenster her zog es empfindlich, und der Fußboden fühlte sich eiskalt an, obwohl er die Hausschuhe anhatte. Es sah zu dem Kamin und dem Holz, das daneben aufgestapelt war, doch er wusste, dass er es auch heute Abend nicht schaffen würde, Feuer zu machen.
Der Besuch der Polizisten hatte ihn seine letzte Kraft gekostet. Zahnstatus. Körperliche Merkmale .
Das ungekämmte Haar von Gabriella hing über die Armlehne des Sofas. Die Decke hob und senkte sich im Takt mit ihrem langsamen Atem. Was für ein Glück für sie, dass sie nicht hatte dabei sein müssen, dachte er. Und Glück für mich.
Was die Polizistin wohl in Heddas Tagebuch finden wird? Petra Wilander. Scheint eine gute Frau zu sein. Frisch und gesund. Rote Wangen. Schöne Augen. Jetzt wird sie sehen, wie es in der feinen Arztfamilie in Wirklichkeit zugeht.
Natürlich wollte Ernst, dass die Polizei alles unternahm, um Hedda zu finden, aber dass jemand anders ihr Tagebuch lesen würde …
Auch dass ihr Schulfoto an Zeitungen und Fernsehen gegeben werden sollte, erfüllte ihn mit Unbehagen. Seit Kindertagen war es das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, wenn die Leute Mitleid mit ihm hatten. Er war kein Opfer. Jetzt würden das alle denken, würden den Kopf schief legen und ihn trösten, bedauern und nett sein.
Mitleid haben.
Und alle würden erfahren, wie sie als Eltern versagt hatten.
Petra Wilander schob die Tür zu ihrem Arbeitszimmer zu und schaltete die Schreibtischlampe ein. Die Tannen vorm Fenster sahen in der Nachmittagsdämmerung schwarzweiß aus. Die Kopfschmerzen, die sie die letzten Tage mit sich herumgeschleppt hatte, hatten endlich nachgelassen.
Das Tagebuch von Hedda Losjö lag auf der Schreibtischunterlage. Schwarz, ohne Schloss, gepflegt. Petra klappte es vorsichtig auf.
Obwohl sie Polizistin war, und – wie sie Losjö erklärt hatte – die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie eine Erklärung für das Verschwinden des Mädchens in dem Tagebuch finden würden, spürte sie doch, dass sie mit dem Öffnen und Lesen des Buches eine Grenze überschritt. Und wie immer gelobte sie sich selbst, niemals etwas darüber verlauten zu lassen, außer es ließ sich beim besten Willen nicht vermeiden. Von jetzt an würde es eine geheime Verbindung zwischen ihr und Hedda geben.
Das Tagebuch war fast vollgeschrieben, anfangs mit großzügigen Buchstaben in fröhlichen Farben, gegen Ende mit kleinen, giftigen Versalien in schwarzer Tinte.
3 . Mai (grüne Tinte)
Heute hat Papa mich zur Schule gefahren. Wir hatten eine Doppelstunde Mathe und dann Englisch. Durfte ein Stück vorlesen. Mit Stina und Angelica zu Mittag gegessen. In Sport waren wir schwimmen. Erst sollten wir 400 Meter schwimmen, und dann so viel, wie wir in sechs Minuten schaffen würden. Ich habe neun Bahnen geschafft.
16 . Mai (grüne Tinte)
Zum Reiten. Beata hat ein Fohlen. Wir waren draußen zum Voltigieren. Jede Menge Mücken. Mama war stinksauer, als ich nach Hause kam.
21 . Mai (schwarze Tinte)
Heute wollte ich lernen wie blöd, habe aber kein einziges Buch aufgemacht. War eine Weile bei Stina, bevor wir mit dem Rad in den Stall gefahren sind.
Hab mir die Nägel gefeilt und lackiert, hab es aber wieder abgemacht.
Petra zuckte zusammen, als ihr Chef, Sven Munther, an die Tür klopfte, die ein wenig offen stand. Er sah sie an und kam ins Zimmer.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte er und lehnte sich an die Wand.
»Tja, schwer zu sagen. Wir haben nur mit dem Vater gesprochen, und der war natürlich sehr besorgt.«
»Was meinst du, Verbrechen oder Freitod?«
»Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Ich habe gerade angefangen, ihr Tagebuch zu lesen, und man kann, auch ohne Grafologe zu sein, feststellen, dass im vergangenen Jahr einiges in dem Leben des Mädchens passiert ist.«
Petra zeigte ihm schnell zwei Seiten, eine vom Februar und eine vom September.
»Oh, verdammt«, sagte Munther.
Petra lehnte sich im Stuhl zurück.
»Ist die Suchanzeige schon raus?«, fragte sie.
»Ja, ich hab sie gerade im Radio gehört. Hoffen wir mal, dass sie was bringt.«
Munther sah auf das Tagebuch in Petras Händen.
»Wir sollten mal nicht zu viele Hebel in Bewegung setzen, was dieses Verschwinden angeht. Erinnerst du dich an das Mädchen, das vor ein paar Monaten verschwunden ist? Die war nur zu einem Treffen mit ihrem geheimen Freund in Kil gefahren.«
Petra nickte,
Weitere Kostenlose Bücher