Mädchen im Schnee
bei ihnen essen.« Hannes streckte den Kopf in die Küche. »Halb elf, wie immer?«
»Ja, klar. Viel Spaß.«
Die Tür wurde aufgemacht und wieder zugezogen. Als Petra Hannes am Küchenfenster vorbeigehen sah, zog sich etwas in ihrer Brust zusammen. Ihr kleiner Junge, der so groß geworden war. Sie hing ihren Gedanken nach und bemerkte nicht, dass Lasse hereinkam.
»Na, dann bleiben nur noch wir zwei übrig«, sagte er und legte die Arme um Petras Taille.
»Ja«, sagte Petra. »In der Tat. Hast du was von Nellie gehört?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Ich hoffe, sie ist gut angekommen.«
»Bestimmt. Sie ist doch nur nach Karlstad gefahren, da kann nun wirklich nicht viel schiefgehen.«
»Klar, aber trotzdem«, sagte Petra und reichte Lasse die Salatschüssel. »Kannst du die bitte mal auf den Tisch stellen?«
Petra nahm ihr Handy, um Nellie anzurufen. Sie meldete sich nicht, dann kam die Mailbox.
»Hallo, hier ist Nellie. Ich kann gerade nicht ans Telefon gehen. Sag was nach dem Piepton.«
»Hallo, Liebling, hier ist Mama. Ich wollte nur hören, ob du gut angekommen bist. Ruf bitte mal an. Hab dich lieb.«
Petra trug das Gratin und die Schale mit den Nachos ins Wohnzimmer, stellte alles auf den Glastisch und ließ sich neben Lasse auf das Sofa fallen.
Endlich Wochenende. Endlich!
Lasse lud sich mehrere Löffel Gratin auf seinen Teller.
Petra sah ihn abschätzend an.
»Hast du mal was von einem Bordell in einer ganz normalen Mietwohnung gehört?«, fragte sie.
Lasse hatte den Mund voll und machte große Augen. Als er fertig gekaut hatte, sagte er:
»Was? Hier? In Hagfors?«
Petra nickte.
»Das erzählen die Leute mir doch nicht. Schließlich wissen alle, mit wem ich verbandelt bin.«
»Da hast du auch wieder recht. Dir sind also nicht irgendwelche Gerüchte zu Ohren gekommen?«
»Nicht ein Wort.«
Petra war schon nach wenigen Bissen satt, und plötzlich wusste sie wieder, warum sie Lasses Leibgericht so lange nicht gemacht hatte. Es war einfach zu schwer.
»Wie geht’s dir?«
»Gut. Ein bisschen müde.«
»Willst du nichts mehr essen?«
»Nein, danke. Ich hole nur eben mein Handy«, sagte sie und erhob sich schwerfällig.
Keine Anrufe in Abwesenheit, keine SMS .
Petra blätterte noch mal bis zu Nellies Nummer vor und ging zum Sofa zurück.
»Hallo, hier ist Nellie. Ich kann gerade nicht ans Telefon gehen. Sag was nach dem Piepton.«
»Hallohallo. Hier ist noch mal Mama. Ruf doch mal an, damit wir wissen, ob alles in Ordnung ist. Oder schick eine SMS . Hab dich lieb.«
Lasse schob den leer gegessenen Teller von sich.
»Komm«, sagte er und breitete die Arme aus.
Petra schmiegte sich an ihn, legte den Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Was für eine Arbeitswoche war das gewesen.
Plötzlich merkte sie, wie Lasse ihre Schulter losließ und seine Hand ihren Rücken hinunter und unter ihre Strickjacke glitt.
»Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr. Nicht heute Abend.«
Die Bewegung erstarrte.
»Morgen, ich verspreche es«, murmelte sie in sein T-Shirt.
Lasse wechselte schweigend den Fernsehkanal.
Drei Minuten später schlief sie.
Endlich kam der Tag, an dem Leonardo uns holen sollte. Ich hatte meine Kleider gewaschen und gebügelt und, so sorgfältig wie ich nur konnte, zusammengefaltet. Obenauf in die Tasche legte ich den Prospekt. Ana war den ganzen Morgen über schweigsam, und sie tat mir so leid, doch nicht einmal ihre Besorgnis konnte meine Vorfreude trüben.
Leonardos Auto war ganz und gar nicht so schick, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war zwar nicht rostig, aber sehr klein, und der Lack glänzte überhaupt nicht. Außerdem war es orange, wie eine Apfelsine.
Als wir auf den Rücksitz gekrochen waren, holte Leonardo unsere Pässe aus einem Fach und zeigte sie uns. Ich sah okay aus, fand ich, aber Ana mit ihren Korkenzieherlocken war wie immer besonders süß. Ich hätte unsere Pässe gern noch etwas länger angeschaut, aber Leonardo – eigentlich hieß er ja anders, aber wie, habe ich mir nie gemerkt – steckte sie in das Fach zurück und meinte, so sei es besser.
Noch ehe wir Chişinâu verlassen hatten, wurde mir schlecht. Das ganze Auto roch nach Rauch, und die Sonne brannte auf die Scheiben. Ana hatte es auf ihrer Seite etwas kühler, doch auch sie sah blass aus.
Wir fuhren lange, den ganzen Tag und den ganzen Abend. Als wir Hunger bekamen, hielt Leonardo an einer Tankstelle und kaufte für jede von uns eine Cola. Ich kann immer noch keine Cola trinken,
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