Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
DAMEN UNTER DREISSIG JAHREN, DIE GENÖTIGT SIND, FERN VON IHRER FAMILIE ZU LEBEN, UM EINER BERUFLICHEN BETÄTIGUNG IN LONDON NACHZUGEHEN, FINANZIELLE ERLEICHTERUNG UND GESELLSCHAFTLICHEN SCHUTZ GEWÄHREN!
Nur wenige Menschen, die zu ihrer Zeit gelebt haben, waren so entzückend, so einfallsreich, so rührend-anmutig und dabei – wie es so geht – so ungestüm wie diese minderbemittelten jungen Mädchen. Und sie selbst waren sich dessen bewußt – die einen mehr, die anderen weniger.
«Ich muß dir etwas erzählen», sagte Jane Wright, die Leitartikel für eine Frauenseite schrieb.
Am anderen Ende der Leitung antwortete die Stimme Dorothy Markhams, die eine florierende Agentur für Fotomodelle besaß: «Liebling, wo warst du denn so lange?» Sie sprach immer in einem höchst exaltierten Ton, den sie sich in ihren Debütanten-Tagen angewöhnt hatte.
«Ich muß dir etwas erzählen. Erinnerst du dich an Nicholas Farringdon? Er kam doch gleich nach dem Krieg immer in den alten May of Teck. Er war ein Anarchist und so was wie ein Dichter. So ein Großer mit …»
«Der, der immer aufs Dach hinaufkroch, um dort mit Selina zu schlafen?»
«Eben der. Nicholas Farringdon.»
«Ach, ja. Ist er wieder aufgetaucht?»
«Nein, er ist als Märtyrer gestorben.»
«Als was – bitte?»
«Als Märtyrer – in Haiti. Getötet. Du erinnerst dich doch, er wurde Priester.»
«Aber ich war doch gerade in Tahiti, es ist himmlisch, alle sind einfach himmlisch dort. Woher hast du das denn?»
«Haiti. Eben kam eine Nachricht durch, über Reuter. Ich bin sicher, daß es derselbe Farringdon ist, weil es heißt: ‹Ein Missionar, der früher Dichter war›. Ich bin fast gestorben. Weißt du, ich habe ihn gut gekannt, damals. Aber vermutlich wird man alles das, was damals war, verschweigen, wenn man daraus eine Märtyrer-Geschichte machen will.»
«Wie ist es denn passiert – ist es grauslich?»
«Ach, ich weiß nicht, es war nur eine kurze Notiz.»
«Du mußt über die Geschichte unbedingt mehr herausfinden. Ich bin erschüttert. Ich hab dir eine Unmenge zu erzählen.»
D AS V ERWALTUNGSKOMITEE GIBT SEINEM E RSTAUNEN ÜBER DEN P ROTEST DER M ITGLIEDER GEGEN DIE FÜR DEN SALON GEWÄHLTE TAPETE A USDRUCK . D AS K OMITEE WEIST DARAUF HIN , DASS DIE B EITRÄGE DER M ITGLIEDER NICHT AUSREICHEN , UM DIE LAUFENDEN U NKOSTEN DES C LUBS ZU DECKEN . D AS K OMITEE BEDAUERT , DASS DER G EIST DER M AY OF T ECK -S TIFTUNG OFFENBAR SO WEIT ENTARTET IST , DASS ES ZU EINEM SOLCHEN P ROTEST KOMMEN KONNTE . D AS K OMITEE VERWEIST DIE M ITGLIEDER AUF DIE S TIFTUNGSSTATUTEN DES C LUBS .
Joanna Childe war die Tochter eines Landpfarrers. Sie war sehr intelligent und hatte starke, verborgene Gefühle. Sie ließ sich als Lehrerin in Vortragskunst ausbilden und hatte – während sie selbst noch eine Theaterschule besuchte – bereits einige Schüler. Joanna Childe hatte sich zu diesem Beruf vor allem wegen ihrer guten Stimme und ihrer Liebe zur Poesie hingezogen gefühlt. Dabei liebte sie Dichtung etwa so, wie vermutlich eine Katze Vögel liebt: Dichtung, vor allem solche, die sich zur Deklamation eignete, erregte sie und sie war ganz besessen davon; sie stürzte sich auf solche Sachen, spielte, im Geiste bebend, damit und wenn sie sie auswendig wußte, trug sie sie mit einer Art gierigen Wohlbehagens vor. Meist schwelgte sie in dieser Gewohnheit, während sie Stunden im Club gab, wo man sie sehr hochschätzte. Das Auf- und Abschwellen von Joannas Stimme, das aus ihrem Zimmer oder aus dem Aufenthaltsraum drang, in dem sie häufig probte, gab dem Institut – so fand man – eine besondere Note und einen gewissen Stil, vor allem wenn männliche Besucher kamen. Ihr poetischer Geschmack wurde tonangebend für den ganzen Club. Sie hatte eine besondere Vorliebe für gewisse Stellen in der autorisierten Ausgabe der Bibel, abgesehen vom allgemeinen Gebetbuch, Shakespeare und Gerard Manley Hopkins. Dylan Thomas hatte sie erst kürzlich entdeckt. Die Dichtung Eliots und Audens vermochte sie nicht zu bewegen, ausgenommen des letzteren Verse:
Leg im Schlaf den Kopf, mein Kind
mir arglos auf den Arm, den argen.
Joanna Childe war groß, hatte helles, schimmerndes Haar, blaue Augen und tief gerötete Wangen. Sie stand mit den anderen jungen Frauen vor dem mit grünem Filz bespannten Anschlagbrett, las die von Lady Julia Markham, der Vorsitzenden des Komitees, unterzeichnete Mitteilung und murmelte gedankenverloren: «Er wütet und
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