Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Offensichtlich hatte er beschlossen, dass sie keine Gefahr darstellte. Weder zog er sich zur Tür zurück, noch trat er seine Zigarette aus.
»Mia Kettering. Wir kennen uns nicht.«
Jetzt schien er sich zu verkrampfen. »Ich weiß, wer Sie sind«, antwortete er. »Ich bin schon einmal Ihrem Mann begegnet. Was führt Sie her?«
»Ich komme im Namen von Brad Harper«, antwortete sie und wartete ab, bis er die Bedeutung ihrer Worte erfasst hatte. Als es so weit war, schien er am ganzen Körper zu erstarren. Er warf die Kippe fort und sah sich nach allen Seiten um.
»Keine Sorge, Doktor, wir sind allein. Ich bin wegen Nika Love hier. Sie erinnern sich doch an sie?«
Er antwortete nicht. Zweifellos, weil er merkte, wie sich die Schlinge um seinen Hals enger zusammenzog.
»Sie müssen nichts sagen«, stellte Mia fest, »aber es macht keinen Unterschied. Weder hat mich die Polizei verdrahtet, noch bin ich an dem interessiert, was Sie getan haben und was man als … moralisch zweifelhaft bezeichnen könnte. Ich will nur, dass Sie Nikas Baby holen.«
»Wo ist sie? Im Strandhaus? Hat sie schon Wehen?«, fragte er und wirkte unsicher dabei.
Brad hatte sein Strandhaus in New Jersey in der Vergangenheit den schwangeren Mädchen zur Verfügung gestellt. »Nein, sie ist nicht in Brads Haus, sondern in einer Hütte in den Bergen. Im Norden von Virginia.«
Housley runzelte die Stirn. »Sie hat mir gesagt, dass sie das Baby nun doch nicht hergeben will.«
Zorn kochte in Mia hoch. »Das Mädchen kann ihre Entscheidung nicht einfach rückgängig machen, wenn ihr danach ist, Doktor. Das werden Sie sicher verstehen. Sie hat sich schon vor Wochen entschieden.«
»Nein, nein«, entgegnete er und trat mit erhobenen Händen ein paar Schritte zurück. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich stehle doch keine Babys! Die Mädchen waren immer einverstanden. Nur allzu bereitwillig. Ich will nichts mit einer zu tun haben, die uns auffliegen lässt.«
Dämlicher Drecksack. »Das tut sie nicht«, versprach Mia und ging in Gedanken den Plan durch. Morgen – eigentlich bereits heute – war Donnerstag. Wenn Housley seinen Job anständig erledigte, würde das Baby schon am Abend auf der Welt und bei seinen Eltern sein. Und Nika wäre dann bereits tot. Alles wäre bereit für Sonntagabend, neunzehn Uhr. Der kostbare Augenblick, auf den sie schon seit mehr als sechzehn Jahren hinfieberte, wäre endlich gekommen.
Aber nur, wenn Housley seine Arbeit tat.
Sie zog ein gefaltetes Stück Papier unter dem Armband ihrer Uhr hervor, auf dem eine Wegbeschreibung stand. »Hier, halten Sie sich daran, und fahren Sie gleich morgen früh los. Die Fahrt dauert ungefähr drei Stunden. Rufen Sie mich an, wenn Sie angekommen sind. Ich will den kleinen Jungen erst sehen, bevor Sie ihn fortgeben.«
Housley fuhr sich mit der Hand über das schmale Gesicht. »Was soll ich so lange mit dem Baby machen?«, fragte er. Eine gute Frage, wie Mia anerkennend feststellte.
»Was immer Sie auch sonst tun.«
Mia kehrte erst weit nach Mitternacht zurück. Marshall saß in einem Sessel im Schlafzimmer und lauschte auf die Geräusche des Garagentors, das Klackern der Absätze auf dem Marmorfußboden und das sanfte Rascheln ihres Rocks, als sie die Treppe hochkam und das Schlafzimmer betrat. Als sie ihn entdeckte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Lieber Himmel!«, rief sie und fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Warum bist du wieder wach?«
Weil ich dich retten will, dachte er, sprach die Worte aber nicht aus. Er war noch nicht bereit, sie zu verlieren.
Er stand auf und trat in den sanften Schein einer Nachttischlampe, während der Rest des großzügig geschnittenen Schlafzimmers im Dunkeln lag. »Ich wusste gar nicht, dass Libby so eine Nachteule ist«, sagte er.
»Libby?« Dann fiel es ihr wieder ein. »O ja, ihr Wohnzimmer ist sehr schön geworden. Sie muss mir unbedingt den Namen ihres Innenarchitekten verraten.« Mia ging zu einer Kommode, legte ihre Handtasche und die Schlüssel darauf ab und schlüpfte aus der burgunderfarbenen Jacke. Enthüllte ihre schmale Taille und den tiefen Ausschnitt, den Männer stets bewunderten. Doch sie sah Marshall nicht an. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Du weißt ja, wie das mit uns Frauen ist. Ich habe die Zeit völlig aus den Augen verloren.«
Lügen. Marshall spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. Aber er konnte ihr ebenso wenig die Wahrheit ins Gesicht sagen wie sie ihm. Sie hatte so viele
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