Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Jahre darauf gewartet, ihre verlorene Tochter zu sehen. War überzeugt gewesen, dass sich Kristina an ihrem achtzehnten Geburtstag melden würde. Als sie das nicht tat, war aus einem miesen Tag ein Alptraum geworden: erst die Tatsache, dass Kristina nicht gekommen war, was ihr schier das Herz gebrochen hatte, dann der Schock, als sie noch am selben Abend die Fotos entdeckte, die Marshall die ganzen Jahre über versteckt gehalten hatte. Er würde sich seine Nachlässigkeit niemals verzeihen. Etwas war daraufhin in Mia zerbrochen, und all die Jahre der Therapie und sorgfältig dosierten Medikamente, all die Jahre, die er ihre Erkrankung kontrolliert hatte, waren innerhalb von Sekunden zunichtegemacht. In jenem grauenvollen Augenblick, als Mia sah, wie ihre Tochter mit zwei Jahren ausgesehen hatte, war es mit ihrer geistigen Gesundheit bergab gegangen. Marshall hatte sie in jener Nacht fast nicht mehr wiedererkannt. Sie hatte sich im Badezimmer ihr fast hüftlanges Haar mit der alten Küchenschere ihrer Mutter abgesäbelt und ihm Hasstiraden an den Kopf geschleudert. Bis heute wusste er nicht, wohin sie gegangen war, als sie das Haus verließ. Er war nur allzu dankbar gewesen, dass sie bei ihrer Rückkehr viel ruhiger und viel gefasster wirkte.
Dennoch hatte ihm die ganze Sache keine Ruhe gelassen, und so hatte er noch in derselben Woche, jedem Berufsethos zum Trotz, Kristina besucht. Er wusste genau, wo sie sich aufhielt, denn seit er damals für ihr Sorgerechtsverfahren die Gutachten verfasste, hatte er schließlich einen guten Grund gehabt, sie im Auge zu behalten.
Bei seinem Besuch hatte er sie angefleht, sie möge sich doch mit ihrer leiblichen Mutter treffen, und sie hatte zugestimmt. Allerdings bestand sie darauf, dass die Zusammenkunft erst in einigen Monaten stattfinden sollte. Als er später Mia die Karte mit Datum und Uhrzeit überreichte, war das einer der glücklichsten Augenblicke seines Lebens gewesen.
Jetzt war kaum mehr davon übrig als eine Erinnerung, an die er sich klammern würde, solange er konnte.
»Komm ins Bett, Liebes«, sagte er und strich ihr übers Haar. »Es wird schon bald dämmern.«
Und der Sonntag war nicht mehr weit entfernt.
37
Donnerstag, 7. Oktober, 7:40 Uhr
M onika erwachte langsam von einer Art Heulen in der Ferne. Eine Sirene, stellte sie fest. Weit fort, aber doch unüberhörbar.
Eine Sirene?
Sie schob sich mühsam mit ihrem gewölbten Bauch an den Rand des Betts. Ihr Rücken fühlte sich an, als sei sie unter die Räder eines Trucks gekommen. Sie stand auf, ging zum Fenster und spähte durch den Vorhangschlitz, konnte aber keine Blaulichter erkennen. Die Morgendämmerung tauchte den Himmel in blasses Violett und Grau, der Tag war erst vor wenigen Minuten angebrochen. Gestern hatte sie sich darauf festgelegt, dass sie vermutlich in nordwestliche Richtung blickte, denn hier war es überhaupt nicht wie zu Hause. Wenn sie dort morgens aus ihrem Fenster geschaut hatte, sah sie die im Osten aufgehende Sonne.
Hier reichte der Blick nur von einer bewaldeten Hügelkette bis zur nächsten. Eine nicht enden wollende Wildnis ohne Sonne.
Und doch heulte irgendwo da draußen eine Sirene. Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt, doch dann verließ sie die Hoffnung. Nichts. Keine Polizisten, die herkamen, um sie zu retten, oder Sanitäter, die Geburtshilfe leisten würden. Vielleicht war es nur ein Traum gewesen.
Sie ließ die Vorhänge zurückfallen und wappnete sich gegen einen zweiten Tag Gefangenschaft in diesem Schlafzimmer, bewacht von dem Eismann. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie schlug wütend mit den Fäusten auf das Kopfkissen ein. Der Broker hatte sie unablässig gedrängt, ihr Baby zu verkaufen, und anfänglich hatte sie sogar darüber nachgedacht. Doch dann hatte sie die ersten Bewegungen gespürt, erst ein Flattern, gefolgt von Tritten. Ein Junge, hatte Monika für sich beschlossen, obwohl ihre Mutter auch stets behauptet hatte, während der Schwangerschaft mit Monika das Gefühl gehabt zu haben, einen Fußballspieler auszutragen. Im fünften Monat hatten Monika allmählich Zweifel beschlichen, ob sie das Baby wirklich hergeben wollte.
Ein Geräusch. Monika erstarrte, als die mittlerweile vertrauten Schritte die Treppe hochkamen. Der Eismann öffnete die Schlösser und stellte ein Tablett mit Essen für sie ab. Darauf befand sich auch ein kleines Päckchen, das er ihr zuwarf. Sie fing es auf, woraufhin er sich umdrehte und ohne ein weiteres Wort
Weitere Kostenlose Bücher