Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
sich vor dem imposanten Stiftungsgebäude auf und sprachen aufgeregt in ihre Mikrofone. Es war ein echtes Spektakel, und das alles, weil Mitch einen Terrorangriff überlebt hatte und die entsprechenden Fotos ausstellte. Ihm wurde schlecht bei der Vorstellung, dass es fast um nichts anderes gegangen wäre.
Mitch nahm den Hintereingang und ging ein letztes Mal durch die Ausstellung. In den Händen hielt er ein zusätzliches Exponat: ein Foto von Brad und Housley, das Russell aufgenommen hatte. Es war klar, dass das FBI Brad nicht so schnell beikommen würde. Warum also nicht die Aufmerksamkeit von zweihundert wichtigen Gästen nutzen, um Brads Reaktion zu testen? Mitch ging zu einem Porträt in der Mitte der von ihm und Terence neu konzipierten Ausstellung und stellte es in eine Nische hinter der Tür, wo er es wieder hervorholen würde, sobald Brad die Aufnahme von sich gesehen hatte.
Er verließ den Saal durch eine Hintertür, stieg eine enge Treppe hinab und gelangte mit Hilfe der Keykarte in den Keller. Er war diesen Weg schon so oft gegangen, dass er kein Licht brauchte. In Gedanken war er bei Dani und freute sich darauf, sie zurechtgemacht zu sehen. Heute Abend würde er mit ihr angeben und nicht von ihrer Seite weichen, würde sie beschützen. In diesem Augenblick trat eine Gestalt aus dem Schatten und drückte ihm mit einem Arm die Kehle zu.
49
M itch erstarrte. Der Mann hielt ihn umklammert, er spürte seinen Atem am rechten Ohr.
»Wie lautet die Parole?«, fragte er. Die Körperhaltung, die Stimme, die Wortwahl – das alles klang nur allzu bekannt.
»Mach’s dir selbst«, erwiderte Mitch und befreite sich. Die beiden Männer taumelten auseinander und blieben stehen. Mitch sah seinen Bruder im Dämmerlicht des Tunnels an.
»Ich hätte dich fast gehabt«, maulte Neil. Mitch fragte sich, wie oft sie als Jungen wohl diese Spiele gespielt haben mochten – in dem Netz aus Abwasserrohren unter dem Sedalia Park mit Walkie-Talkies so groß wie Ziegelsteine und gegen imaginäre Feinde. Damals hatten immer die Guten gewonnen.
»Eher warst du kurz davor, eine Tracht Prügel zu kassieren«, erwiderte Mitch. »Obwohl das Gerücht umgeht, du wärst ein Softie geworden. Da wollte ich dich lieber schonen.«
Neil schnaubte, und damit war ihr Begrüßungsritual beendet. Mitch zuckte zusammen, als er im Dämmerlicht die gezackte Narbe an Neils Kiefer erkannte, die bis unters Kinn verlief. Er konnte sich nicht an den Anblick gewöhnen – ein Beweis dafür, wie wenig Zeit sie in den letzten zehn Jahren miteinander verbracht hatten.
»Wie heißt sie?«
»Beth. Wir heiraten nächsten Monat.«
»Es geht das Gerücht, du hättest sie vor einem Verrückten gerettet.«
»Eigentlich hat sie sich selbst gerettet, ich war nur dabei.«
Mitch sah seinen Bruder an. Ich war nur dabei. Einfache, aber bedeutungsschwere Worte. Neil war nie irgendwo dabei gewesen. Weder als ihr Vater starb noch danach. Weder für seine Tochter oder später für seine Frau war er da gewesen. Es gehörte zu Neils Daseinsberechtigung, nicht da zu sein.
Mit Ausnahme für Beth, wie es schien. Beängstigend, wozu Frauen Männer bewegen konnten.
»Du weißt, dass ich in der Schweiz war, oder?«, fragte Neil. »Ein paar Mal.«
»Fünf Mal, um genau zu sein«, erwiderte Mitch. Er hatte mitgezählt. »Ich war ein wenig außer Gefecht gesetzt.«
»Russell hat mir von dem Jungen erzählt. Ist er das oben auf den Fotos?«
Mitch schloss die Augen und nickte.
»Es war nicht deine Schuld, dass er gestorben ist.« Neil hielt inne. »Genauso wenig wie es deine Schuld war, dass Dad gestorben ist.«
Mitch brachte keinen Ton heraus, sondern sah seinen Bruder bloß an. Der Bruder, der gegangen war, weil Mitch die Hand ihrer Schwester losgelassen hatte.
»Ich habe mich gefragt, ob es wohl eine festgelegte Zahl gibt«, sagte Neil.
»Wie bitte?«
»Eine Zahl. Wie viele Menschen glaubst du wohl noch retten zu müssen, bis du die Sache mit Dad endlich loslassen kannst?«
Mitchs Herz pochte, als er die Wahrheit begriff. »Genau einen. Komm mit«, murmelte er, »ich denke, du solltest sie kennenlernen.«
Dani kämpfte mit dem Reißverschluss ihres Kleides. Es war ärmellos, silberfarben und zeigte zu viel Bein. Außerdem lag es zu eng an der Brust an, war eigentlich überall zu eng. Kein Wunder, dass sie das verdammte Ding nicht schließen konnte.
Sie hörte die Wohnungstür klappen und ging ins Wohnzimmer, die hohen Absätze verfluchend. Ihre Hände hielten
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