Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
worden …
Marshall. In dem Album befand sich kein Foto von ihm, aber ihr waren seine Worte vor Gericht bekannt. Er hatte für sie Partei ergriffen und versucht, ihnen ihre Handlungsweise begreiflich zu machen.
Der liebe, liebe Marshall, dachte Mia. Er war schon damals von ihr hingerissen gewesen. Die Richter hingegen hatten sich unnachgiebig gezeigt, und man hatte Kristina der Vormundschaft des Staates unterstellt. Zwei Jahre hatte Mia gekämpft, hatte in der Zeit Marshalls Werben nachgegeben und gehofft, dass er ihr eines Tages helfen würde, Kristina wiederzubekommen. Mia hatte den wahren Grund für den Umzug nach Maryland erst später begriffen, aber als sie erfuhr, dass Kristina in diesem Bundesstaat lebte und ihre Adoptionsakte nur bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag verschlossen sein würde, hatte sie verstanden. Marshall hatte sie in die Nähe ihrer Tochter gebracht.
Mia hatte auf diesen achtzehnten Geburtstag hingelebt. Aber als es endlich so weit war, hatte sie statt Kristina nur die Akte auf Marshalls Schreibtisch zu Gesicht bekommen. Ein zweijähriges Mädchen. Verbrannt. Die linke Seite ihres Gesichts und der Skalp verunstaltet …
Das war vor drei Monaten gewesen, dem Beginn des Gemetzels. Sie hatte von Brads Mädchen erfahren, die ihre Babys verkauften, während sie, Mia, ihr ganzes Erwachsenenleben ohne ihre Tochter hatte verbringen müssen. Eines der Mädchen hatte zum Zeitpunkt der Entdeckung in Brads Strandhaus erst wenige Stunden zuvor ihr Kind zur Welt gebracht. Mia war dort hingefahren und hatte die Schere dabeigehabt, während ihre eigenen Haare noch auf dem Badezimmerfußboden lagen. Sie hatte beim Verlassen ihres Hauses noch nicht konkret gewusst, was sie tun würde, doch ein paar Stunden später war alles klar – als Heather Whytes Kopf wie der von der kleinen Kristina aussah und eine dicke Strähne braunen Haars in Mias Händen lag. Und von der Schere tropfte das Blut …
Da war der Plan in ihr gereift, Kristina wieder ganz zu machen, ihr ihre Haarpracht und ihr Leben und ihre Mutter zurückzugeben. Ihr eine wunderschöne Perücke zu schenken, die aus Mias Haaren und aus dem Pfand ihrer Liebe gemacht war.
Eine Uhr schlug, und Mia blickte auf. Es war an der Zeit. Marshall hatte damals nach ihrem Zusammenbruch mit Kristina gesprochen und ein Datum und eine Uhrzeit festgelegt. Und vor zwei Monaten hatte er Mia diese wunderschöne Karte überreicht, das kostbarste Geschenk, das er ihr je gemacht hatte: Sonntag, 10.10., Kristina. 19:00 Uhr.
Sorge brachte Mias Haut zum Prickeln. Was, wenn sie Nika nicht rechtzeitig fand? Oder wenn Fulton in Panik geraten war und jemandem verraten hatte, wo Nika war?
Sie trat in die Mitte der Staffeleien, ihrer ganz eigenen Ausstellung, und berührte jedes Foto mit dem zerstörten Gesicht. Als sie bei Nikas Foto ankam, ging ein Ruck durch sie. Nika war fort. Mia würde sie nicht bekommen. Die Polizei war zu dicht dran, und Fulton war tot. Und das FBI war ebenfalls eingeschaltet.
Sie wandte sich den Fotos von Dani Cole zu, die sie in dem Erinnerungsalbum versteckt hielt. Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf. Sie betrachtete Nikas Foto – dunkles, dichtes Haar und samtweicher Porzellanteint.
Nika war verschwunden, aber Dani nicht.
»Mia?«
Sie fuhr zusammen, schob die Fotos von Cole rasch in das Album und legte es in den Schrank zurück. Hastig ging sie von Staffelei zu Staffelei und löschte das Licht.
»Mia, bist du da oben?«
Sie öffnete die Tür. Marshall stand auf der halben Treppe.
»Darling«, sagte er besorgt. »Ich habe dich gesucht. Wir müssen bald aufbrechen.«
Ruhig bleiben. Sie würden sich in Kürze auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen, und darin war Mia gut. Marshall würde nur noch misstrauischer werden, wenn er merkte, dass sie nicht bei der Sache war. »Ich bin fast so weit«, sagte sie und ging ihm auf der schmalen Treppe entgegen. Als sie auf seiner Stufe war, wandte er sich nicht zu ihr um, sondern blickte zur Dachbodentür hinauf. »Wieder die Fotos?«, fragte er.
Sie schluckte. »Ich habe nur gedacht, vielleicht möchte sie etwas über uns erfahren. Über mich. Ich will ihr helfen, uns besser kennenzulernen –«
»Schluss!« Mia blinzelte überrascht. Dieser barsche Tonfall war sehr untypisch für Marshall.
»Was ist?«
Er schien nach Worten zu ringen. »Was ist, wenn Kristina nicht so ist … wie du sie dir vorstellst?« Mia runzelte die Stirn. Marshall hatte sich bislang nie anders als aufmunternd
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