Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
müssen?« Dann dachte sie an Mia, die sinnbildlich mit dem Finger auf ihren eigenen Ehemann gezeigt hatte. »Was ist mit Mia Kettering?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Mitch. »Marshall hat Kinder, aber die waren schon erwachsen, als er Mia heiratete.«
Die Sache mit der Frau als Täterin war eine gewagte These, aber sie wollte Dani nicht aus dem Sinn gehen. Sie griff nach ihrem Handy und rief Flint an. »Oh, Cole«, sagte er. »Ich darf nicht mehr mit Ihnen arbeiten, Gibson macht einen Riesenaufstand. Was ist eigentlich los?«
»Das können Sie morgen in der Zeitung lesen«, antwortete Dani. TOCHTER VON KORRUPTEM POLIZISTEN TRITT IN FUSSSTAPFEN DES VATERS. »Keine Sorge, ich will Sie nicht begleiten, aber ich habe eine Frage. Sie sind doch vorhin noch mal zu Marshall Kettering zurückgefahren. Was hat er gesagt, als Sie ihn fragten, wo er letzte Nacht gewesen sei?«
»Er sagte, er sei im Golfclub gewesen und habe dort zu Abend gegessen.«
»Haben Sie das überprüft?«
»Ja. Zwei Dutzend Zeugen. Einige hatten ihn nach seiner Frau gefragt, da sie wohl häufig zu zweit dort auftauchen. Und er hat geantwortet, dass sie nicht mitkommen wollte.«
»Also wusste Mia, wo er den Abend verbrachte?«
»So habe ich es verstanden, ja.«
Dani legte auf. »Mia Kettering lügt. Ich frage mich, was sie zu verbergen hat.« Sie wandte sich an Neil. »Man sagt, dass das FBI eigentlich nur zum Aktenwälzen taugt. Wie sieht’s aus – kannst du für mich ein paar Akten wälzen?«
Neil grinste. »Darin bin ich ein Meister.«
Aus den Daten, die Neil sichtete, formte sich ein Bild von Mia Kettering, das am ehesten einer Person ähnelte, die gegen den ewigen Treibsand des Lebens ankämpfte. Sie hatte nie eine echte Chance gehabt.
Ihr Leben begann als Mia Dixon, Tochter einer Prostituierten und Drogenabhängigen namens Liza. Der Vater wurde in den Akten nicht erwähnt. Liza wurde mehrmals festgenommen und schien keinen Job behalten zu können, obwohl sie ein paar Wochen lang eine Fachschule für angehende Kosmetikerinnen besuchte und später Leuten gegen Bares die Haare schnitt. Mia wuchs in ärmlichen Verhältnissen, teils sogar auf der Straße auf. Als sie zehn war, beschloss ihre Mutter, sie ihren Freiern anzubieten, um dadurch ein Extraeinkommen zu haben.
Mia war schon als Kind außergewöhnlich schön gewesen, mit dichtem Haar und einem klaren Teint.
Doch das nächste Foto, das sich Dani ansah und auf dem sie ein wenig älter war, vermittelte einen anderen Eindruck. Kurzes, ungleichmäßig abgesäbeltes Haar und ein völlig verzweifelter Blick. Sie hätte ohne weiteres in einer von Mitchs Ausstellungen auftauchen können.
»Warum sind so viele Informationen über sie gespeichert?«, fragte Mitch.
»Es hat ein Gerichtsverfahren gegeben«, informierte ihn Neil. »Da wurde ziemlich viel aus ihrer Vergangenheit zusammengetragen. Wie es scheint, wurde Anklage gegen sie erhoben, jedoch wieder fallengelassen. Und es hat später ein Sorgerechtsverfahren gegeben.«
»Sorgerecht?«, hakte Dani nach.
Neil holte einige Blätter aus dem Drucker und gab sie Dani. Ihr blieb beim Lesen fast das Herz stehen. »O Gott, Mia ist mit fünfzehn Jahren schwanger geworden! Der Name des Kindes lautete Kristina. Dann, als das Baby zwei war, hat es einen Brand gegeben –« Ihr versagte die Stimme, doch sie konzentrierte sich. »Sie kam vor Gericht, und man nahm ihr das Kind weg, dessen Gesicht und Haare – o mein Gott.«
»Dani?« Mitch war in Sekundenschnelle an ihrer Seite. Mit zitternden Fingern zeigte Dani auf das Foto der zwei Jahre alten Kristina.
»Lieber Gott«, entfuhr es Mitch. Er sah genauer hin.
»Das Kind sieht ja genauso aus wie –«
»Rosie.«
50
D er Saab wurde von einem Mitarbeiter des Parkservice weggefahren. Marshall hielt Mia den Arm hin, woraufhin Mia ein Lächeln für ihn zustande brachte. Sie hatte sich für ein Kleid entschieden, das sie schon vor Jahren gekauft, aber bislang nie getragen hatte. Eine dunkelblaue Haute-Couture-Robe, deren Ausschnitt ihr fast bis zum Nabel ging. Die Wahl der Handtasche war eine größere Herausforderung gewesen, da momentan winzige Clutches modern waren, in die kaum mehr als eine Kreditkarte hineinpasste. Doch sie hatte noch ein Modell gehabt, das ihren Zwecken genügte. Und solange sie auf Lippenstift, Geld und Spiegel verzichtete, würde sie zurechtkommen und nur das mitnehmen, was sie wirklich brauchte: Die Büttenkarte mit der Liste, die Schere und eine kleine
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