Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Ohne ein Wort zu sagen, trat sie an den Tisch heran und betrachtete das Porträt.
»Das ist er also«, sagte sie schließlich und schlang sich die Arme um die Taille. »Sie sagen, dass er meine Schwester umgebracht haben soll.«
»Wen meinen Sie mit sie? «, fragte Mitch und achtete darauf, dass seine Stimme ruhig klang.
»Im Fernsehen. In den Nachrichten.«
»Also die Medien, Ms. Milano, nicht die Polizei.«
Sie sah ihn mit leeren Augen an, dann schien sie ihn auf einmal zu erkennen. »Sie sind doch derjenige, der –«
»Ich bin Mitch Sheridan. Russell Sanders war wie ein Vater für mich.«
Sie wirkte überrascht. Vermutlich hatte sie eine Rechtfertigung für Russ’ Taten erwartet. Oder dass er sich und die Stiftung von den schauderhaften Gerüchten über Russ und Rose McNamara distanzieren würde.
Fiele ihm ja nicht im Traum ein.
Er bemerkte das zerknitterte Foto in ihrer Hand. »Ist das Ihre Schwester?«
Sie blickte hinab, als hätte sie bereits vergessen, dass sie das Foto in Händen hielt, und reichte es Mitch. Es war ein Schnappschuss von zwei jungen Frauen, die in die Kamera lächelten, ein Baby lag zwischen ihnen. Eine der Frauen war Janet Milano. Die andere Rosie.
Wie jung sie doch gewesen war, dachte Mitch. Was, um alles in der Welt, hatte Russell mit ihr zu tun gehabt?
Er reichte Janet das Foto zurück. »Sie war sehr schön.«
»Ja«, erwiderte Janet, und Mitch glaubte, eine Spur von Bitterkeit aus ihrer Stimme herauszuhören. »Wirklich schön.«
»Ms. Milano, was bringt Sie auf den Gedanken, dass Russell Ihre Schwester gekannt haben könnte?«
»Ich habe letztes Wochenende gehört, wie sie am Telefon miteinander gesprochen haben.«
»Wie bitte?« Mitch spürte, dass sich seine Kehle zusammenzog.
»Sie war bei mir und hat auf das Baby aufgepasst. Als ich nach Hause kam, sprach sie gerade mit Sanders.« Ihr Gesicht wurde hart. »Sie haben gestritten.«
Mitch war wie vom Donner gerührt. »Worum ging es?«
»Das weiß ich nicht. Sie hatten etwas verabredet. ›Okay‹ und ›keine Sorge, das mache ich nicht‹, hieß es. ›Ich werde da sein.‹ Solche Sachen. Aber Rosie war aufgebracht.«
»Hat sie etwas über ihn erzählt?«
»Sie meinte bloß, er sei jemand, den sie bei der Arbeit kennengelernt hätte. Sie wollte mir später alles erklären.«
Mitch fühlte sich, als würde ihm jemand einen Nagel zwischen die Augen hämmern. Sie hatte ihn bei der Arbeit kennengelernt? Rosie hatte in der Supermarktkette Big Lots an der Kasse gesessen. Doch Mitch wusste, dass es in diesem Teil der Stadt keine Filialen der Kette gab. Und Russ würde dort ohnehin nicht einkaufen.
»Woher wussten Sie, dass es Sanders war?«
»Da wusste ich es nicht. Mir ist das Gespräch erst gestern Abend wieder eingefallen, nachdem die Polizei nach ihm gefragt hat. Daraufhin bin ich die Anrufliste von meinem Telefon durchgegangen.«
»Haben Sie der Polizei Bescheid gesagt?«
Sie nickte. »Ja, gleich heute Morgen.«
Mitch mahlte mit den Kiefern. Ein weiterer Treffer gegen Russ.
Sie sprachen noch fünf Minuten miteinander, doch Mitch erfuhr nichts Neues. Er notierte sich ihre Nummer. »Janet, das, was mit Ihrer Schwester geschehen ist, tut mir sehr leid. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an. Bitte.«
Janet hatte Tränen in den Augen, als sie erst Mitch anblickte und sich dann in dem Konferenzraum umsah. Ihre Miene verriet Abscheu und Verwirrung – vermutlich hielt sie Mitch für einen reichen Schnösel, der sich nur um den Ruf seiner Organisation sorgte, doch dagegen konnte er nichts unternehmen. Er musste herausfinden, was um alles in der Welt Russell mit Rose McNamara zu schaffen gehabt hatte.
Mitch runzelte die Stirn. Russell hatte Rose McNamara eindeutig gekannt. Und die Polizei wusste das. Dani natürlich auch. Und sie hatte ihm nichts davon gesagt, wie es typisch für sie war.
Mitch gab normalerweise nicht mit seiner Berühmtheit an, aber er war sich im Notfall auch nicht zu fein dafür. Er holte sein Handy hervor, rief beim LCPD an und verlangte nach Chief Gibson. Fünf Minuten später legte er zähneknirschend auf.
Dani war ihm eine Erklärung schuldig.
Brad sah vom Flur aus, wie Mitch die Stiftung verließ, und schmeckte den Hass förmlich auf der Zunge. Der Geschäftsführer der JMS-Foundation war tot und in den Mordfall einer Nutte verwickelt. Die bis dahin größte Marketingkampagne für die kommende Ausstellung war bereits angelaufen, doch waren noch nicht einmal alle
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