Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)

zutrat. »Dann werde ich dir jetzt mal etwas von meinem Vater erzählen. Er war ein dreckiger Bulle, der seine Dienstmarke dazu benutzte, mit Gangstern gemeinsame Sache zu machen. Er hat alles verspielt und versoffen, was wir besaßen. Als ich sechs Jahre alt war und meine Mom an Krebs erkrankte, habe ich ihn angebettelt, er möge mich mal mitnehmen und sich um mich kümmern. Das hat er getan – ich war bei Hundekämpfen, Schlägereien und illegalen Glücksspielen – all die Dinge, die er einem Dreckskerl namens Ty Craig durchgehen ließ. Dann kam Jason auf die Welt, und Mom starb, und ich habe mich den Rest meiner Kindheit darum gekümmert, dass mein Bruder genug Geld hatte, um sich in der Schule etwas zu essen zu kaufen. Er bekam gefälschte Erlaubnisschreiben von mir, und ich fuhr ihn zum Baseball-Training, obwohl ich keinen Führerschein besaß. Ich wollte nur, dass niemand merkte, dass ich die Einzige war, die sich um ihn kümmerte.«
    Mitch war fassungslos. Nachdem ihr Vater verhaftet worden war, hatte er erfahren, dass Artie Cole gar kein Pilot gewesen war, wie Dani ihm immer erzählt hatte. Und dass das Leben für Jason und sie nicht einfach gewesen war. Doch Mitch war sich nicht bewusst gewesen, welche Ängste sie hatte ausstehen müssen. Er war ein heißblütiger junger Mann gewesen, der sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte und so verletzt und wütend über ihren vermeintlichen Betrug an ihm gewesen war, dass er kompromisslos mit der Vergangenheit abschloss. Sie hatte nur den Keim der Eifersucht in ihm säen müssen, und er war weggerannt – zu blind, um zu sehen, was wirklich los war, und zu stur, um sie nicht aus seinem Leben zu verbannen und sich einmal mehr nach ihr zu erkundigen.
    Mitch Sheridan, der Mann, der um den Globus reiste und das Unheil der Welt bekämpfte. Er war ein zu großer Feigling gewesen, genau hinzusehen, was in seinem Umfeld geschah.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und jeder Muskel in seinem Körper versteifte sich. »Er hat dich doch nicht etwa zu den Off-Road-Rennen mitgenommen, oder?«, fragte er.
    Dani zuckte zusammen und wich seinem Blick aus. Mit einem Mal war die Erinnerung wieder lebendig, und Mitch konnte es einfach nicht fassen.
    »Die blauen Flecken«, sagte er. »Du hattest überall Prellungen.«
    Dani zuckte mit den Schultern. »Manchmal.«
    Wütend drehte er sich fort und ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er den Drecksack umgebracht, doch der war ihm zuvorgekommen und hatte sich so aus der Affäre gezogen.
    Mitch wandte sich wieder Dani zu. »Warum hast du niemandem davon erzählt, als du älter warst und das Sorgerecht für Jason hattest?«
    Dani schnaubte verächtlich. »Ich sah ihn doch so gut wie nie. Ich war Polizistin, und mein Vater hielt Abstand zu mir. Doch dann wurde er für eine ganze Weile eingebuchtet, und als er schließlich rauskam« – sie runzelte die Stirn –, »verspielte er alles. Er hatte keinen Cent mehr. Da habe ich ihn zu mir geholt und wollte auf ihn achtgeben, aber –« Sie hielt inne, doch Mitch wusste, was sie ungesagt ließ: Das hat nicht gereicht. Anstatt sie zu lieben oder ihr zu danken, hat sich der alte Bastard einfach das Leben genommen, während sie im Zimmer nebenan lag und schlief.
    Mitch schloss die Augen und spürte ihren Schmerz wie von einem Messer in der Brust. Er machte einen Schritt auf sie zu. »Es tut mir leid«, sagte er leise.
    »Warum? Weil du dir eine gebrochene Nase eingefangen hast, als du versucht hast, mir zu helfen?«
    »Weil ich nicht hingesehen habe. Und weil ich mich nicht darum gekümmert habe, wie es dir danach ging.« Er betrachtete ihre abwehrende Körperhaltung und die dunklen Wimpern. Sie hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, Mauern um sich zu errichten, weil niemand sie beschützte. »Weil ich nicht auf dich achtgegeben habe.«
    »Ich brauche dich ganz sicher nich–«
    Die Berührung seiner Lippen schnitt ihr das Wort ab. Mitch hielt ihr Gesicht mit beiden Händen umfasst und zog sie an sich. Er spürte die Hitze, die ihr in die Wangen stieg, an seinen Handflächen und merkte, dass sie den Atem anhielt. Doch Mitch wagte sich über diese Schwelle von Erstaunen und Unsicherheit hinaus. Er liebkoste ihre Lippen, bis sie sie seufzend öffnete und er den Kuss vertiefen konnte. Die Leidenschaft ihrer einst so jungen Liebe war durch die Jahre gereift, und als er sie nun zärtlich küsste, spürte er, wie diese Leidenschaft zu einer zügellosen, nie dagewesenen Begierde anwuchs. Als