Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
hinauszuzögern, konnte nur tragisch enden. Er beugte sich vor und stützte sich auf die Unterarme. »Ich werde morgen Sarah Rittenhouse feuern.«
Mia schnappte nach Luft. Sarah war seit neun Jahren seine Sprechstundenhilfe, und er wusste, dass Mia sie immer gemocht hatte.
»Warum in aller Wel–«
»Bitte sprich leise. Ich muss es tun. Sie hat Medikamente aus der Praxis gestohlen.«
Mia starrte ihn an. » Sarah? Marshall, das muss ein Irrtum sein. So etwas würde sie niemals tun.«
»Ich konnte es zuerst auch nicht glauben, aber es ist wahr. Schlafmittel, Amphetamine, Schmerzmittel … das ist keine Bagatelle, Mia.«
»Aber weshalb? Was will sie denn mit diesen harten Sachen?«
Marshall spürte ein Stechen in der Brust. Großer Gott. Sie verbarg wirklich etwas vor ihm. Denn Mia wusste sehr genau, was man mit den Medikamenten anstellen konnte. Sie war in der Unterwelt groß geworden, umgeben von Drogen und Prostitution. Ihre Mutter hatte sie im Alter von zehn Jahren gezwungen, sich Männern hinzugeben. Insgeheim hatte Marshall oft gedacht, dass der Tod ihrer Mutter – sie verbrannte in ihrem heruntergekommenen Wohnwagen – Mias Rettung gewesen war. Allein um Mias willen gefiel ihm die Vorstellung, dass ihre Mutter gelitten haben musste.
Mia musste seine Gedanken gelesen haben. Zwei Sekunden später ruderte sie zurück. »Ich meine, natürlich kann ich mir denken, was manche Leute mit derartigen Medikamenten tun würden. Aber Sarah? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie Drogen auf der Straße verkauft.«
»Vielleicht ja nicht auf der Straße«, gab er zu bedenken. »Vielleicht verkauft sie sie an Leute, die sie kennt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir keine andere Wahl bleibt, als ihr zu kündigen.«
»Hast du sie schon mit der Sache konfrontiert?«
»Noch nicht«, antwortete er. »Aber das werde ich morgen tun. Ich muss es tun.«
Mia wurde blass. Der Kellner trat an ihren Tisch und nahm die Lederhülle, in die Marshall dreihundert Dollar gesteckt hatte. »Darf ich Ihnen Wechselgeld bringen, Dr. Kettering?«
Er winkte ab. »Nein danke, es stimmt so.«
»Ich glaube, du solltest sie lieber nicht darauf ansprechen«, sagte Mia, nachdem der Kellner gegangen war. Ihre Stimme klang drängend. »Was, wenn du falschliegst?«
»Ich liege nicht falsch. Niemand außer Sarah hat Zugang zu den Akten und unseren Vorräten.« Außer dir vielleicht. Marshall wartete Mias Reaktion ab, doch als sie schwieg, blieb ihm nur, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Lass uns gehen. Ich habe wieder eine Nachtschicht vor mir«, sagte er und stand auf. Dann umrundete er den Tisch, um Mias Stuhl zurückzuziehen. Er konnte nicht widerstehen und drückte ihr einen raschen Kuss auf den Scheitel. Er zog den Schlüssel des Saab hervor und versuchte, so nonchalant wie immer zu wirken. Doch sein Herz fühlte sich wie tot an.
Er hatte recht. Es war nicht Sarah, die Medikamente aus seiner Praxis stahl.
Es war Mia.
Dani fuhr in ihrem Wagen zur Stiftung zurück, und Mitch folgte ihr wie ein Wachhund. Vergiss das Radisson. Sie hätte ihn für seine bevormundende, sexistische Art am liebsten verflucht, doch im nächsten Augenblick wünschte sie sich nichts mehr, als in seinen starken Armen zu liegen. Wie sehr sie sich auch schämte, sie musste zugeben, dass es kaum eine einsamere Vorstellung gab, als heute Nacht allein in einem Motel zu hocken, dem grollenden Donner zu lauschen und sich über Runt und eine unbekannte Blondine den Kopf zu zerbrechen.
Die Vorstellung, den Abend mit Mitch zu verbringen, war allerdings nur geringfügig beruhigender.
Dani überlief ein Schauder, als sie an den Kuss dachte. Sie fluchte. Gott, jetzt war es offiziell: Wie erbärmlich! Ein Sommer als Siebzehnjährige in seinen Armen, und schon heulte sie ihm hinterher wie ein hormongesteuerter Teenager, der allein bei seinem Anblick weiche Knie bekam. Ein Moment in seinen Armen, und schon sehnte sie sich nach ihm wie eine ausgehungerte, sexsüchtige Frau.
Sie war Polizistin, und sie war stark. Sie würde bestimmt keine weichen Knie bekommen, nur weil irgendein Dreckskerl sie verhöhnte. Sie würde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen, um ihn herauszulocken. Das hier war ein Mordfall, und abgesehen von den bisherigen Fakten war OCIN die einzige Verbindung zwischen Russell Sanders, Rosie und dem adoptierten Baby. Dani fuhr nicht zu Mitchs Apartment, weil sie Angst hatte, allein zu sein. Sie fuhr dorthin,
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