Mädchen und der Leibarzt
Kalk und Erde aufgehäuft und windschiefe Holzkreuze. So viele …«
»Oh, Gott.« Gregor senkte den Kopf. »Ich glaube, es wird höchste Zeit für den Blatternversuch.«
»Aber ich werde den Versuch nicht durchführen. Ich mache gar nichts mehr!«
»Aber warum? Helena, was ist los mit dir? Du möchtest Medicus werden, du kennst womöglich ein Mittel gegen die Blattern, und du willst den Menschen helfen. Warum tust du es dann nicht? Es wird höchste Zeit!«
»Weil ich nicht helfen kann, Gregor! Lea und ihre Mutter sind tot! Sebastian glaubt sich ebenfalls im Sterben, die Gräfinnen leiden unter meinen Behandlungen und der Arm von Ernestine wird auch nicht besser. Der Äskulap meint, es sei das Herz. Aber es ist das Gebein!«
»Ja, das stimmt.«
»Was sagst du?« Helena sah ihn verständnislos an.
»Ernestine ist auf den Arm gestürzt, als ich nachts mit ihr auf der Kuhweide war. Helena …« Er sah sie ermahnend an. »Erschrick jetzt bitte nicht und hör mir gut zu. Ich habe dir einiges zu erzählen.«
»Das Gefühl habe ich auch.«
»Zuerst einmal …« Gregor nestelte an seinem Hemd, dann zog er den Ärmel hoch und behielt Helena dabei im Blick. »Zuerst einmal möchte ich dir zeigen, was du für eine gute Ärztin bist. Sieh dir die Schussverletzung an.« Helena konzentrierte sich auf die Wunde an seinem bloßen Oberarm. Wahrhaftig: Das Ansetzen der Fontanelle hatte sich bewährt, und nur an einer kleinen Stelle wurde die Wunde noch von einer tiefschwarzen Mase überdeckt.
»Hast du überhaupt bemerkt, dass ich dich vorhin im Arm gehalten habe? Das habe ich dir zum Dank versprochen, wenn die Knochen wieder zu gebrauchen sind. Erinnerst du dich? Aber ich habe dir noch etwas versprochen: Ich wollte dir Flügel schenken …« Er drehte sich und zeigte ihr den anderen Arm. Helena erschrak.
»Das ist … das sind …«
»Melkerknoten, ja. Allerdings schon fast wieder abgeheilt. Demnächst kann die künstliche Mitteilung durchgeführt werden.«
»Gregor … du hast es also wirklich getan?« Helena strich fast ehrfürchtig über die Überreste der fünf oder sechs kleinen Pusteln.
»Ja«, sagte er lächelnd, »und alles halb so schlimm. Es fühlt sich übrigens schön an, wenn du mich berührst. Und es kitzelt überhaupt nicht.« Erschrocken wollte Helena die Hand zurückziehen, aber er hielt sie fest. »Es waren keine Blattern unter den Franzosen, sonst wären sie längst
auch bei mir ausgebrochen. Es besteht keine Gefahr mehr. Du kannst den Versuch zu Ende führen, den ich begonnen habe.«
»Aber Gregor, das geht nicht.« Helena fand nur mit Mühe ihre Sprache wieder. »Der Äskulap … er will … er muss dabei sein, hat er gesagt. Sonst zeigt er mich an wegen Pfuscherei.«
»Das ist tatsächlich ein Problem.« Gregor versuchte Erstaunen vorzutäuschen, während er fieberhaft überlegte, ob er ihr etwas sagen durfte. Er entschied sich dagegen.
»Gregor?« Helena starrte noch immer auf die vernarbten Pusteln. »Glaubst du, ich schaffe das mit dem Versuch? Meinst du, es würde gutgehen?«
»Gewiss. Oder glaubst du an die Hörnerfantasien unseres Äskulap?«
»Niemals! Aber wenn das Blatterngift zu stark ist, wenn die Melkerknoten nicht dagegen wirken, wenn … Was ist, wenn du dabei stirbst, Gregor?«
»Dann bin ich tot. So einfach ist das, Helena.«
»Nein, so einfach ist das nicht!« Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Warum denn nicht?«
»Weil … weil ich dich gern habe!«
Schweigend und ein wenig verblüfft strich er ihr über das Haar. »Ich habe dich auch sehr gern, Helena. Und gerade deshalb tue ich das für dich. Es wird alles gutgehen, du wirst sehen.«
Helena schüttelte zweifelnd den Kopf und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihre Haut, und seine Sinne waren hellwach. Ihr Atem war ganz nah an seinem Gesicht, und er schloss die Augen. Ganz sanft, wie ein leichter Hauch, streiften seine
Lippen ihren Mund. Er wanderte ihren Hals hinab und Helena flüsterte: »Du hast Recht: Es kitzelt überhaupt nicht.« Gregor sah in ihr Gesicht und erkannte, dass Glück daraus sprach. Der Glanz ihrer Augen war das schönste Geschenk, das er bisher bekommen hatte.
KAPITEL 15
S ebastian von Moltzer, gebürtig aus Halle und erster Stiftskanzler des fürstlich freiweltlichen Damenstifts zu Quedlinburg, starb in der Früh des 6. November 1802. 37 Jahre, 8 Monate, 9 Tage. Todesursache: unbekannt.
Der Äskulap entriss ihr das Kirchenbuch, das er ihr zuvor unter die Nase gehalten hatte. »Und? Was hast du
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