Mädchen und der Leibarzt
Angst um ihn, und du vermisst ihn, nicht wahr?«
Helena brachte ein kaum merkliches Nicken zustande.
»So geh doch endlich zu ihm oder willst du gar nicht wissen, wie es um deinen Gregor steht?«
»Doch. Aber er ist nicht mehr mein Gregor … Er ist es übrigens nie gewesen.« Sie wischte sich über die Augen. »Er
hat schon immer zu Aurelia gehört, sie braucht ihn viel mehr als ich. Wenn sie überlebt … wenn beide überleben.«
»Warum sollten sie das nicht?«
»Vielleicht habe ich etwas übersehen. Ich weiß nicht, ob Gregor die Melkerknoten richtig bekommen hat. Auch weiß ich nicht, ob Aurelia sich mit dem Blatterngift angesteckt hat. Ich weiß einfach gar nichts mehr …«
»Vielleicht hat es so sein sollen, dass Aurelia dazwischenkam …«
Irritiert wandte Helena den Kopf. »Wie meinst du das? Aurelia darf aber nicht meinetwegen sterben.« Der Raum, die Medizin in den Regalen, die Instrumente, alles begann sich bei diesem Gedanken um sie herum zu drehen. Ihr wurde übel, sie glaubte den Lavendelgeruch plötzlich nicht mehr ertragen zu können. Nur weg von hier … Sie sprang auf und riss dabei den Suppenteller zu Boden. Er zerschlug auf dem Steinboden, und Helena erstarrte vor Schreck. Aber Lukas blieb gefasst. Er sammelte die Scherben auf und sagte dabei in ruhigem, aber bestimmtem Ton: »Selbst wenn es so wäre, trägst du keine Schuld. Schließlich war sie es, die sich befreit hat, um den Versuch zu stören.«
Es gelang ihr ein wenig, ihre Gefühle zu sammeln und sie ließ sich wieder am Tisch nieder. »Ohne meinen dummen Ehrgeiz wäre das nicht nötig gewesen, es wäre nichts passiert.«
»Noch ist nichts geschehen.« Lukas warf die Scherben in einen Holzkübel, setzte sich wieder hin und löffelte seine Suppe weiter.
»Ich hoffe nur, dass beide überleben.« Helena rieb sich mit den Händen durchs Gesicht und versuchte damit unauffällig, die aufsteigenden Tränen wegzuwischen. »Und dass
Gregor und Aurelia wieder zueinanderfinden. Mit mir wäre er ohnehin nicht glücklich geworden …«
»Sie werden überleben, Helena. Und wenn alle Stricke reißen … Wie wäre es, wenn wir dann zusammen fliehen würden? Ich habe das Leben als elender Chirurg hier in der Stadt ohnehin mehr als satt. Was meinst du?« Er ergriff ihre Hand und fuhr begeistert fort: »Ich könnte mein Haus verkaufen. So hätten wir genug Geld, um uns einen Pferdewagen zuzulegen. Dann laden wir alle Bücher und …«
»Lukas …«
»… und das Handwerkszeug auf …«
Nachdenklich entzog sie ihm ihre Hand. »Lukas, ich will zwar nicht mehr hier sein, aber ich will auch nicht davonlaufen. Ich muss für das geradestehen, was ich angerichtet habe.«
»Aber noch ist nichts geschehen!«
»Wenn ich nie ins Stift gekommen wäre, hätte der Äskulap weiter friedlich vor sich hingearbeitet, dann wäre nichts geschehen! Warum musste ausgerechnet ich der Fürstäbtissin das Leben retten? Wäre ich nur nicht hiergeblieben …«
»Habe ich mir’s doch gleich gedacht.« Lukas schmunzelte. »Du bist also die geheimnisvolle Retterin, von der die ganze Stadt spricht. Von wegen eine Nichte des Äskulap!«
Helena stieg die Röte ins Gesicht. Sie suchte nach Ausflüchten, aber Lukas schien keine Entschuldigung zu erwarten.
»In den paar Tagen, seit du bei mir bist, ist mir jede Operation geglückt. Zumindest konnte jeder Patient mehr oder minder aufrecht meine bescheidene Hütte verlassen. Und das habe ich nur dir zu verdanken.«
»Unsinn. Ich habe doch kaum Ahnung von der Chirurgie.«
»Aber du hast Verstand und die nötige Besonnenheit.
Außerdem hast du ein Gespür dafür, wann das Mittel der Wahl nicht angreifender ist als die Krankheit selbst.«
»Übrigens, Lukas, hast du nicht gesagt, dass heute noch eine Wirtsfrau mit ihrem kleinen Sohn vorbeikommen wollte?«
»Doch. Eigentlich hätte sie schon am Vormittag auftauchen sollen. Vermutlich verzichtet sie jedoch auf einen Besuch, weil sie glaubt, dass ihr Sohn ohne die Hilfe eines Chirurgen eher überlebt.«
»Dein Berufsstand hat nicht den besten Ruf, sicherlich, aber vielleicht sind die Zahnschmerzen ja auch besser geworden? «
»Das würde an ein Wunder grenzen. Bei meinem letzten Hausbesuch war die Backe so dick und rot wie ein Apfel, das hättest du sehen sollen. Falls sie doch vorbeikommen sollten, werde ich das Übel ziehen müssen.«
»Ist dir das bei einem Kind schon einmal gelungen?«
»Nein.« Lukas sah betreten zu Boden. »Bisher habe ich eine derartige Operation
Weitere Kostenlose Bücher