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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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nur an Erwachsenen durchgeführt. Ich kam einfach nie so weit: Allein beim Anblick meiner Instrumente bricht in einer Kinderseele die Panik aus. Die Kleinen schreien wie am Spieß und werden beinahe zum Tier. Sie kratzen, beißen und strampeln, bis die Mutter aufgibt und lieber auf Gottes Hilfe vertraut. Das erscheint ihnen allemal sicherer.«
    »Man bräuchte etwas, womit man das Kind beruhigen oder vielleicht sogar schlafen lassen könnte.«
    »Da wären Wein oder Opium.«
    »Willst du, dass das Kind für immer schläft? Das ist zu gefährlich. Gibt es keine andere Möglichkeit, vielleicht eine, bei der man auf das Zahnziehen verzichten könnte?«

    »Doch, ich könnte dem Kind eine Quecksilberkur verabreichen. Aber ich habe gelesen, dass zu viel Quecksilber schneller zum Tod führt, als ein kranker Zahn es könnte.«
    »Ich habe auch gehört, dass man Aqua mercuriale für verdächtig hält. Aber woher wüssten wir, welche Dosis bei einem Kind zu viel wäre?«
    »Bliebe also nur, das Übel an der Wurzel zu packen. Falls sich der Zahn in der unteren Kinnlade befindet, so müsste sich der Junge zur gehörigen Verrichtung auf den Fußboden setzen, wenn das Elend im Oberkiefer ist, so wäre der Platz auf dem Tisch ganz dienlich. Aber wenn sich der Junge sodann wehrt und der Zahn dabei bricht … Nicht auszudenken. «
    »Es muss eine Lösung geben. Jedenfalls werden wir das Kind aufsuchen, wenn sie nicht bald selbst vorbeikommen.«
    »Zur Not muss es eben von einigen Männern festgehalten werden«, beschloss Lukas.
    »Muss es denn mit Gewalt sein?«, wandte sie ein. »Die Kinder sehen darin nur eine Bedrohung, sie können sich nicht vorstellen, dass man ihnen helfen will. Vielleicht sollte man …« Sie wurde vom mehrmaligen Schellen der Notglocke unterbrochen.
    Lukas schob den leeren Suppenteller beiseite, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben.
    »Beeil dich, das muss ein Notfall sein!«
    »Das sind doch nur wieder ein paar Lausbuben, die so lange am Glockenseil ziehen, bis ich sie verjage.« Lukas räusperte sich, bevor er brüllte: »Lasst endlich den Unsinn, oder kommt herein, wenn ihr etwas wollt!«

    Gregor dachte die ganze Zeit über an Helena. Was sie wohl gerade machte? Er hockte im Schneidersitz auf dem Bett und schaute an Aurelia vorbei, die gegenüber auf einem notdürftig eingerichteten Strohbett saß und ihn beständig ansah.
    »Willst du nicht mit mir reden, Gregor?«
    Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. Worüber sich dieser Chirurg und Helena wohl gerade unterhielten?
    Aurelia ließ nicht locker. »Denkst du an Helena?«
    Ob sie sich beim Chirurgen wohlfühlte? Mehr als an seiner Seite?
    »Gregor, warum antwortest du nicht? Denkst du an sie?«
    »Darf ich das nicht?« Es waren die ersten Worte seit Tagen, und es war das, was ihn seit Tagen beschäftigte. Durfte es kribbeln, wenn er an Helena dachte? Durfte sie ihm so fehlen, dass es wehtat?
    »Es ist ein schreckliches Gefühl, jemanden zu vermissen, nicht wahr?« Bei Aurelias verständnisvollen Worten schaute Gregor überrascht auf.
    »Nicht zu wissen, ob man denjenigen noch einmal wiedersieht, ob man hoffen soll, ob die Gefühle erwidert werden und wie lange man das noch aushalten muss.«
    Er zupfte an seinem Ärmel, führte die beiden offenen Enden zusammen, und weil der Knopf fehlte, fielen sie wieder auseinander.
    »Ich weiß, wie das ist, Gregor. Man starrt tagelang nur ins Leere, weil man glaubt, den anderen verloren zu haben, und man kann nichts dagegen tun. Man hat Angst vor dem Augenblick, in dem der andere das Band zerschneidet, und plötzlich scheint alles dem Schicksal überlassen. Man will nach Hause kommen und wird abgewiesen.«

    Gregor sah sich im Geiste in seiner Offizierskleidung, als er Aurelia ein letztes Mal zum Abschied zugewinkt hatte, bevor er sich vor über einem halben Jahr mit vollem Eifer ins Kriegsabenteuer gestürzt hatte.
    »Als du ins Feld gezogen bist, habe ich bei jemandem Halt gesucht, weil ich mich von dir verstoßen fühlte. Es war dieselbe verletzende Gleichgültigkeit, die ich schon zu Hause zu spüren bekommen habe. Ich dachte, du würdest mich auch im Stich lassen …«
    »Du warst mir nicht gleichgültig, Aurelia. Ich musste meine Pflicht tun, und das war beileibe nicht einfach. Wäre ich sonst desertiert, um wieder in deiner Nähe zu sein?«
    Aurelia sah zu Boden.
    »Allerdings will es mir noch immer nicht in den Kopf, warum du dich ausgerechnet mit einem Franzosen, unserem Feind, eingelassen hast?

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