Mädchen und der Leibarzt
So, bitte schön, nun ist sie offen.«
Helena nahm die Feder aus der Flasche und versuchte das Zittern ihrer Finger zu verbergen.
»Vielleicht solltest du deinem Gregor erst noch eine kleine Schnittwunde zufügen, oder willst du ihm das Gift unter die Achsel reiben?« Missmutig hielt ihr der Äskulap eine kleine Lanze hin.
»Verzeihung, gewiss.«
Gregor wandte den Kopf ab, und der Äskulap wachte mit Argusaugen über jeden ihrer Handgriffe. Sie kniff die Haut an Gregors Oberarm zusammen und ritzte mit der Lanze einen dünnen Schnitt hinein. Dann, wie von fremder Hand geführt, nahm sie die Feder und drückte den spitzen Kiel in die Wunde. Gregor stöhnte auf.
Aus dem Augenwinkel sah Helena gerade noch, wie die Tür aufflog und Aurelia hereinstürmte, als sie auch schon von ihr am Hals gepackt wurde. Sie ließ die Feder fallen, ihr Blut pulsierte in den Adern, sie würgte und versuchte verzweifelt, sich aus Aurelias Griff zu befreien. Während der Äskulap tatenlos zusah, stürzte Gregor auf Aurelia zu und brachte sie mit einer schallenden Ohrfeige zur Räson. Der Griff um Helenas Hals löste sich, und Aurelia brach in Tränen aus.
Keuchend rieb sich Helena die schmerzende Kehle, bis ihr Blick auf die am Boden liegende Feder fiel. Ihr Zorn kannte nun keine Grenzen mehr.
»Aurelia, sind Sie des Wahnsinns? Das Gift läuft aus!«
»Treten Sie zurück!«, herrschte nun auch der Leibarzt die Gräfin an. »Sie haben sich dem Gift in einer Entfernung genähert, in der es sich mitteilen könnte!«
»Aber Sie stehen doch genauso hier!«, rief Aurelia erbost.
»Ich war aber so klug und habe mich längst einer Inokulation
unterzogen. Mir kann das Gift nichts anhaben. Sie dagegen wollten sich wie alle feinen Damen Ihre Haut nicht ruinieren. Das haben Sie nun davon! Jetzt können Sie zusehen, wie Sie höchstselbige retten.«
»Warum muss sich Gregor überhaupt diesem Eingriff unterziehen, wenn ihn doch diese vermaledeiten Melkerknoten schützen sollen?«
»Weil man sich eben nicht sicher ist, ob die Melkerknoten schützen!«, brauste der Leibarzt auf. »Und Sie begeben sich nun augenblicklich in Ihre Räume, werte Gräfin, oder muss ich Sie verscheuchen wie ein störrisches Zicklein?«
»Ich lasse mich von niemandem einsperren! Niemand bringt mich von Gregor weg!«
»Aurelia, bitte sei vernünftig«, bat Gregor inständig. »Sonst verbreitest du womöglich die Blattern im ganzen Stift.«
»Und genau das werde ich tun, wenn sie mich von dir trennen! Ich werde mit dir gemeinsam sterben.«
»Liebe war schon immer die größte Gefahr der Verderbung«, seufzte der Leibarzt. »Aber sodann ist die Sache ganz einfach.« Er nahm seinen Stock und deutete an die Decke. »Die werte Gräfin bewohnt ab sofort gemeinsam mit dem Grafen von Herberstein die Bibliothek. Die beiden werden sicher gut aufeinander aufpassen. Damit wäre die Gefahr für das Stift wohl gebannt.«
Entsetzt starrte Helena den Leibarzt an. »Ohne mich! Wenn das so ist, werde ich gehen.«
»So, wohin denn?«, erwiderte er triumphierend.
»In die Stadt, zum Chirurgen«, konterte Helena ohne Überlegung.
Für einen Moment sagte niemand etwas. Helena ahnte,
dass der Leibarzt mit sich kämpfte. Einerseits brauchte er sie vorerst nicht mehr, andererseits hatte er der Fürstäbtissin das Versprechen gegeben, Helena zu beaufsichtigen.
Der Äskulap räusperte sich. »Sodann werde ich die Fürstäbtissin über die neuen Umstände informieren. Du hast es so gewollt.« Mit finsterem Blick ging er auf Helena zu. »Meinen Umhang bitte …«
KAPITEL 17
H elena stocherte in der Gerstensuppe herum, die Lukas zu Mittag gekocht hatte. Warum hatte sie den Versuch unternehmen wollen? Warum nur? Seit Tagen brachte sie kaum ein Wort heraus, obwohl Lukas sie herzlich aufgenommen und sich seither fast liebevoll um sie gekümmert hatte. Er hatte ihr wie immer die größere Portion gereicht und ihre Suppe mit einem kleinen Petersilienzweig garniert, obgleich er genau wusste, dass er den Teller mit dem weitgehend unberührten Essen wie jeden Mittag wieder stillschweigend würde abtragen müssen.
Helena starrte in die Suppe und spürte, wie Lukas sie unentwegt beobachtete. Sie hielt ihren Blick gesenkt, sie mochte diesen bunten Vogel nicht ansehen, denn sie konnte sein Lachen, seine Aufmunterungsversuche nicht ertragen. Es war wirklich lieb gemeint von ihm, aber sie wollte einfach traurig sein dürfen.
Lukas griff ihr sanft unters Kinn, so dass sie ihn ansehen musste. »Du hast
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