Mädchen und der Leibarzt
Fürstäbtissin zuzuhören. Nur Aurelia fehlte, das sah sie sofort. Auf deren Stuhl hatte stattdessen der Äskulap Platz genommen. Helenas Erscheinen schien niemand zu bemerken, fast wirkte es, als würde man sie ignorieren. Unschlüssig blieb Helena am Türrahmen stehen und wartete auf ein Zeichen der Fürstäbtissin, die jedoch weiter ohne aufzusehen aus einer Schriftrolle vorlas:
»... so erlaube ich mir, Euer Liebde sämtlich den Gegenwärtigen des Kapitels mitzuteilen, dass das Entschädigungsgeschäft nun begonnen sei und alles für meine Ankunft am 3. Dezember getreu und gewissenhaft vorbereitet werden soll. Ich hege zu meinen sämtlichen neuen Untertanen das gnädigste Zutrauen, sie werden diesem Gebot der Erbhuldigung in der Überzeugung Folge leisten, dass die Beschützung und Sorge für das Glück jedes Einzelnen, sowie die Erhöhung und Befestigung des allgemeinen Wohlstandes
der einzige Gegenstand meiner unablässigen Beschäftigung ist. Ferner darf ich bemerken, bis zum 3. Dezember keine der Entschädigungsmasse nachteilige Veräußerung, Distrahierung oder andere abträgliche Handlungen selbst zu unternehmen oder geschehen zu lassen. In Vertrauen auf Euer Liebde gnädigstes Wohlwollen verharre ich in vollkommener Hochachtung, Euer Hoheit und Liebde
Freundwilliger Vetter
Gez. Friedrich Wilhelm
Mit einem zufriedenen Lächeln rollte die Fürstäbtissin das Pergament zusammen, während die Gräfinnen zunehmend unruhiger wurden. Sie rutschten auf ihren Stühlen hin und her und begannen zu tuscheln. Die älteste Gräfin erhob sich als Erste. Helena schämte sich noch immer für ihre Unsicherheit bei der Behandlung der alten Dame, doch diese schien wieder wohlauf zu sein und nahm wie die anderen keine Notiz von ihr.
Bevor die Seniorin sprach, strich sie sich ihr dunkelblaues Kleid zurecht, als wolle sie mit dieser Handlung gleichsam ihre Wut besänftigen, und tatsächlich waren es barsche Worte, die sie an die Fürstäbtissin richtete: »Ich bin entsetzt! Uns steht das Wasser bis zum Halse! Bislang wollten Sie es nicht wahrhaben, aber nun wird es höchste Zeit, etwas zu unternehmen! Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
»Natürlich ist es noch nicht zu spät, liebste Seniorin Gräfin Maria. Wir haben noch bis zum dritten Dezember Zeit, alles für die Ankunft des Königs vorzubereiten. Die Quedlinburger werden in den verbleibenden zwei Wochen mehr damit zu kämpfen haben, Ordnung in ihrer Stadt zu schaffen — wir hingegen sind bestens vorbereitet. Sie müssen sich
höchstens noch überlegen, welches Kleid Ihnen für den Festtag genehm scheint.«
»Schwarz werde ich tragen! Mein Trauerkleid erscheint mir durchaus passend. Können Sie denn nicht zwischen den Zeilen lesen, werte Fürstäbtissin? Er schreibt, dass die Entschädigungsmasse nicht verringert werden darf. Das heißt, er befürchtet zu Recht, dass wir etwas von unserem Stiftsvermögen auf die Seite schaffen. Und genau das werden wir tun! Wir werden alles wieder in unsere Kisten packen, so wie bei unserer Flucht vor den Franzosen! Ich werde Fürst Zeil bitten, uns einstweilen im Kloster Urspring aufzunehmen. Im Habsburgergebiet finden nämlich noch keine Auflösungen statt.«
»Liebste Seniorin Gräfin Maria, machen Sie sich doch nicht lächerlich. Natürlich sind wir vor den französischen Truppen geflohen, und es gab dafür keinen Grund, wie sich herausgestellt hat. Wieso sollten wir nun vor meinem sehr anständigen und hochgeschätzten Herrn Vetter fliehen? Ich bitte Sie, werte Seniorin!«
»Dann bleiben wir eben hier.« Gräfin Maria setzte sich.
»Für immer und ewig«, ergänzte die Fürstäbtissin mit einem verklärten Lächeln. »Ist es nicht eine wunderbare Vorstellung, dass uns der König in diesem, unserem Stift alt werden lässt?«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut, aus dem sich die Stimme des Leibarztes schließlich hervorhob: »Wir stehen vor vollendeten Tatsachen, an denen es nichts mehr zu rütteln gibt. Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat. Immerhin verstößt die Reichsdeputation mit ihren Beschlüssen gegen den Westfälischen Frieden und zudem war das Konsortium doch nur eine Farce. Es wurde getagt, obwohl die
Gebiete schon längst verteilt waren, und nun wartet der König nicht einmal mehr den offiziellen Beschluss ab!«
»Wir könnten doch den Kaiser als unseren Schutzherrn bitten, uns aus der misslichen Lage zu befreien«, warf die jüngste Gräfin mit geröteten Wangen ein.
»Eine vortreffliche Idee, liebste
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