Mädchen und der Leibarzt
sie sich selbst das Leben nehmen. Nein, es gibt eine andere Person, die ein Motiv hätte. Und zwar hier in diesem Raum.«
»Helena, weißt du, was du da behauptest?« Die Stimme der Fürstäbtissin überschlug sich.
»Ganz ruhig, werte Fürstäbtissin«, entgegnete die Seniorin. »Das Mädchen meint nur sich selbst.«
»So?« Helena fixierte sie. »Und wo hätte ich das Gift besorgen sollen? Vielleicht beim Apotheker?«
»Gift gibt es auf jeder Wiese!«, warf die Seniorin ein. »Herbstzeitlose, Fingerhut, Schöllkraut …«
Helena näherte sich der Stiftsältesten. »Verzeihung, aber Sie scheinen sich damit ziemlich gut auszukennen. Vielleicht können Sie mir sagen, um welches Gift es sich in diesem Fläschchen handelt?«
»Das weißt du wohl selbst am besten!«
»Ich vermute Eibe oder Eisenhut, aber das lässt sich nur durch Probieren herausfinden.« Helena führte das Fläschchen an die Lippen, und ein Aufschrei ging durch die Versammlung. Die Fürstäbtissin erblasste vor Schreck, und selbst dem Leibarzt stand der Mund offen. Helena schüttelte lächelnd den Kopf und ließ das Behältnis wieder sinken. »Nur merkwürdig, warum die Seniorin Gräfin Maria gerade nicht mit Entsetzen reagierte. Sie weiß wohl als Einzige, dass sich hier drin keine giftige Substanz befindet! In der Flasche ist … Dreck. Ganz einfach in Wasser aufgelöster Dreck. Ein Schluck davon hätte mir bestimmt nicht geschadet.«
»Und sie?« Der Zeigefinger der Seniorin schoss auf Helena zu. »Woher weiß sie es?«
»Sebastians Wunde war schwarz, als ich am letzten Abend zu ihm kam. Und schon die Wochen zuvor habe ich mich immer über den bräunlichen Eiter gewundert. Als nach seinem Tod plötzlich von Gift die Rede war, kam mir das merkwürdig vor. Die Umstände ließen eher darauf schließen, dass Sebastian ein wenig leiden sollte, indem jeden Tag etwas von dem Dreck in die Wunde getupft
wurde – und schon nahm die unaufhörliche Eiterung ihren Lauf.«
»Das Mädchen ist von Sinnen!«
Es wurde still, aber Helena fuhr unbeirrt fort. »Es wäre wohl alles nicht so weit gekommen, wenn die Seniorin nicht irgendwann angesichts Aurelias zahlreicher Besuche bei Sebastian die Nerven verloren hätte. Die Gefahr wurde größer, dass der Stiftskanzler irgendwann reden würde.«
Gräfin Maria lehnte sich zurück. »Ach, und was hätte er sagen sollen?«
»Zum Beispiel, dass Sie ihn dazu angestiftet haben, die Bemäntelung von Aurelia zu verhindern.«
»Das ist doch infam! Warum sollte ich so etwas tun?«
Die Fürstäbtissin klopfte mit dem Fächer auf den Tisch. »Helena, bitte halte an dich! Es ist kein Geheimnis, dass die Seniorin gegen die Bemäntelung war, aber daran solche Anschuldigungen zu knüpfen ist pure Verleumdung! Außerdem wäre Sebastian niemals auf solch ein Ansinnen eingegangen. «
»Richtig. Und genau das war sein Unglück.« Helena atmete tief durch. »Nicht der Mantel, sondern das Bein der Seniorin brachte Sebastian im entscheidenden Moment zum Stolpern, nachdem er nicht tun wollte, was er tun sollte – und zwar die Bemäntelung von Aurelia verhindern, damit der Platz für die Großnichte der Seniorin frei blieb. Genauer gesagt war Gräfin Sophie keineswegs zu einer Bildungsreise aufgebrochen, sondern schon vor dem Einmarsch der Franzosen schwanger geworden. Die Flucht vor dem Feind kam wie gerufen, um ihre Umstände zu verbergen. Sie hielt sich in Quedlinburg versteckt und wartete zurückgezogen auf ihre Niederkunft.«
Die Fürstäbtissin stutzte. »Habe ich das eben richtig verstanden? «
»Das stimmt doch alles nicht! Das Mädchen lügt! Wo sind denn da die Beweise?«, ereiferte sich die Seniorin.
»Die Geburt fand vor nunmehr vierzehn Tagen unter schweren Umständen statt. Sie werden verstehen, dass der Herr Chirurg und ich nichts dazu sagen möchten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Aber außer uns war zuerst die Ortshebamme zugegen, ehe sie den Chirurgen alarmierte, und außerdem war das Dienstmädchen die ganze Zeit über bei der Niederkunft anwesend. Ich denke, das sind genügend Zeugen. Aber man kann Sophie natürlich auch selbst dazu befragen.«
»Alles Lügen! Ich weiß nichts Derartiges von meiner Großnichte! Und ich habe schon gar nichts mit dem Ableben des Herrn Stiftskanzlers zu tun! Zweiundsiebzig Jahre meines Lebens habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen! Dagegen hat dieses Fräulein hier bereits den Grafen von Herberstein aus Leichtsinn und purer Eigensucht in Todesgefahr gebracht! Und
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