Mädchen und der Leibarzt
Dafür habe ich zwei ordentliche Stricknadeln und etwas Schafswolle. Ich hoffe, das ist dir auch recht.« Verschmitzt zog Borginino die Sachen unter seinem Umhang hervor.
»Das … das ist … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … So schöne Nadeln, kaum verbogen! Und die Wolle! Aber die kann ich wirklich nicht annehmen.«
»Warum denn nicht? Wie willst du denn ohne Wolle stricken?«
Helena lächelte, als sie ihre Errungenschaft vom Markt aus der Rocktasche hervorholte. Das kräftige Rot war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber sie hatte es noch gut vor Augen. Borginino nickte verschwörerisch, entzündete die Kerze und stellte diese auf einem alten Sauerkrautfass ab. Als er das Kellergewölbe verlassen hatte, widmete sich Helena entschlossen ihrem Strickzeug, und schon bald vergaß sie alles um sich herum.
Ihre steifen Finger mussten sich erst wieder mit der ungewohnten Tätigkeit vertraut machen, was im Halbdunkel ungleich schwieriger war. Die erste Hürde bestand allein darin, eine genügende Anzahl Maschen anzuschlagen. Sie musste ihren ganzen Verstand zusammennehmen, um bis einhundertzehn zu zählen. Noch während sie die Wollschlingen
befühlte, sprangen einige davon wieder von der Nadel und lösten sich in Wohlgefallen auf. Schließlich schaffte sie es unter größter Anstrengung, einige Reihen mit rechten und linken Maschen zu stricken.
So saß Helena eingemummelt in die Decken auf ihrem Strohnest, das nur notdürftig die Kälte vom Boden abhielt, während die Mütze für Lukas allmählich Form annahm. Von Zeit zu Zeit gab sie sich einem kurzen Schlaf hin. Sobald sie erwachte, nahm sie das Strickzeug erneut auf, bis ihr wieder die Augen zufielen. Sie wusste bald kaum mehr den Tag von der Nacht zu unterscheiden.
Aurelia saß auf ihrem Bett im Sternenzimmer, wobei sie unentwegt auf die Standuhr starrte. Hoffentlich kam der Diener bald und brachte ihnen frisches Aqua mercuriale … In der letzten Woche hatte sie die Dosis von Tag zu Tag steigern müssen, weil es Gregor immer schlechter ging. Mittlerweile war sie schon so verzweifelt, dass sie eines Abends ihre Hände gefaltet und zu Gott gebetet hatte, weil sie keinen anderen Ausweg mehr wusste; ein vages Gefühl sagte ihr, dass nur Er noch helfen konnte. Nicht einmal der Äskulap wusste, ob Gregor überleben würde. Die Hitze hielt unvermindert an, er schwitzte stark, und ein Speichelfaden lief ihm wie ein unaufhörliches Rinnsal aus dem Mundwinkel.
»Aurelia?«
Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch. »Ja?«
»Wie viel Uhr?« Das Stroh raschelte unter seinen unkontrollierten Bewegungen und Zuckungen, die ihn quälten.
»Wir haben bald die dritte Stunde.« Vermutlich hatte Gregor seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, er befand sich in einem Dämmerzustand, der ihn zunehmend in die Verwirrung trieb, und in wachen Momenten klagte er über furchtbare Kopfschmerzen.
»Der Diener?«, flüsterte er. »Wann kommt er?«
»Zur dritten Stunde, wie immer.«
»Wie viel Uhr?«
»Gerade habe ich es dir gesagt. Wir haben die dritte Stunde.«
»Und wann kommt der Diener?«
»Gregor, bitte!«
»Kommt Helena?«
»Nein. Das weißt du doch. Sie wurde festgenommen.«
»Quecksilber …«
»Gleich, Gregor, gleich! «
Er warf sich unruhig im Bett hin und her, Strohhalme hingen in seinen Haaren, und das Leintuch lag zerknüllt zwischen seinen Beinen. Er stöhnte: »Quecksilber … Wann kommt der Diener? … Wo ist Helena?«
»Gregor, bitte, hör auf!«
Obwohl er völlig übermüdet und geschwächt war, bäumte er sich auf und funkelte sie an wie ein Todgeweihter den Henker. »Sag es mir!« Ein letzter Rest von Rebellion blitzte aus seinen Augen, obwohl sich sein Schicksal längst in dunklen Augenringen auf dem schneeweißen Gesicht abzeichnete.
Aurelia zog das Leintuch zwischen seinen Beinen heraus, um es glatt zu streichen.
»Lass das!«, herrschte er sie an.
Sie fuhr zurück; so hatte sie Gregor noch nie erlebt.
Plötzliche Wutausbrüche wegen Kleinigkeiten, die ihm früher nicht einmal ein Kopfschütteln wert gewesen wären, häuften sich auffällig. Es war nicht mehr der Gregor, den sie kannte. Sein unberechenbarer Zorn und seine Vergesslichkeit brachten sie an den Rand der Verzweiflung. Es ärgerte sie besonders, wenn er in klaren Momenten sofort nach Helena fragte und alles über ihren Verbleib wissen wollte. Sie versuchte ruhig zu bleiben, obwohl sie gehörig um ihre Beherrschung kämpfen musste. Aber Helena würde ihn ihr nicht mehr
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