Mädchen und der Leibarzt
meist und ist keine Zauberei! «
»So, so. Der feine Medicus scheint tatsächlich etwas von seinem Wissen einem Weib anvertraut zu haben.« Der Leibarzt rieb sich das Kinn und murmelte: »Aber wenn das Weib nun schon einmal da ist, so war das doch sehr vernünftig … sehr vernünftig.«
Helena überging die Bemerkung. Sie war einfach nur erleichtert, dass das Gespräch nicht auf ihre Verlobung mit Friedemar gekommen war und der Leibarzt offensichtlich nicht einmal davon wusste. »Könnten wir denn gleich mit den Lektionen anfangen, so wie es die Fürstäbtissin angeordnet hat?«, versuchte sie ihn abzulenken.
»Wie du willst. So gehst du bis zum Abend alle halbe Stunde im Stiftsgarten herum und zählst die Vögel in den Hecken und kleinen Bäumen. Außerdem schaust du in jedes Nest.«
»Vögel? Ich soll Vögel beobachten?«
»Natürlich! Oder glaubst du, ich lasse dich an meine Patienten? Du zählst jeden Vogel, nimmst einen Stock und scheuchst sie aus dem Laub am Boden! Du darfst keinen übersehen. Und wehe, du zählst einen Vogel doppelt! Heute Abend werden wir sodann die Zahlen in die Liste eintragen.«
»Gewiss, aber … Verzeihen Sie, wie soll ich denn die Vögel unterscheiden? Woher soll ich wissen, ob ich nicht doch aus Versehen einen doppelt …?«
»Es gibt mehr Krankheiten auf Erden als Vögel in der Stiftshecke. Also fang an! Und nebenbei sammelst du mir noch ein paar Gänsefedern vom Hof auf. Aber nur die fünf äußersten Schwungfedern eines jeden Gänseflügels, davon wiederum sind die zweiten oder dritten die besten Schreibfedern. «
»Aber wie soll ich denn die richtigen Federn erkennen, wenn sie verstreut umherliegen?«
»Patienten versehen ihre Krankheiten auch nicht mit einer Aufschrift. Und nun halt endlich dein widerspenstiges Maul und geh!«
Aus der Traum. Der einzige Trost war ihre baldige Abreise. Bei diesem Tyrannen würde sie keinen Tag länger bleiben. Auch wenn das Angebot der Fürstäbtissin, bei einem Leibarzt zu lernen, einmalig war — welcher Frau war dieses
Glück beschieden? So hieße bleiben auch, unter dem Joch eines Mannes zu dienen …
Sie atmete tief durch, um ihre aufgewühlte Seele zur Ruhe zu bringen. Helena genoss die schlichte Umgebung und die friedliche Atmosphäre auf dem Stiftshof, jeden Sonnenstrahl, der ihre Haut wärmte. Morgen früh würde sie fort sein, und damit wäre alles vergessen. Und bis dahin würde sie sich noch ein wenig die Zeit mit Federlesen auf dem Stiftshof vertreiben.
Sie ging quer über den Rasen, tippelte die kurzen Stufen hinunter und gelangte so durch den terrassenartig angelegten Garten, vorbei an blätterumrankten Nischenbrunnen und eingefassten Rosenbeeten bis ans andere Ende der Anlage. Dort angelangt stützte sie ihre Hände auf den rauen Stein der Stiftsmauer und ließ ihren Blick über die Harzberge am Horizont schweifen. Von hier oben schaute sie auf die Dächer der Fachwerkbauten, die wie hingewürfelt zwischen den zahlreichen Kirchtürmen der Stadt lagen.
Helena erinnerte sich an die Worte des Leibarztes, der von Blatternfällen in Quedlinburg gesprochen hatte. Es schien so, als würde ihr die Krankheit mit einem höhnischen Lachen vorauseilen, und wo immer sie hinkäme, waren die Menschen bereits von schwarzen Pusteln übersät und warteten, allein gelassen von ihren Familien, bis der Tod vorbeikäme und sich ihrer stinkenden Leiber erbarmte.
Würde sich irgendwer um ein ordentliches Begräbnis für ihre Großmutter kümmern? Aber zurückgehen und nach dem Rechten sehen, hieße, sich zurück in die Arme von Friedemar zu begeben. Oder besser gesagt in seine Fänge, aus denen sie kein zweites Mal entkommen würde.
Schmerzerfüllt wandte sich Helena ab und ging langsam
zurück zum Stift. Hufgeklapper dröhnte die Kutschenauffahrt hinauf.
Friedemar!, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Unterschlupf.
Kurz darauf waren zwei Reiter in weißroter Österreich-Uniform zu sehen, die ihre Schimmel vor den Dienstgebäuden entlang des Wegs durchparierten und sogleich absaßen. Nein, die konnten nichts mit Friedemar zu tun haben, das waren völlig fremde Männer. Mutmaßlich zwei Offiziere, denn beide trugen Stiefel, keine Schnallenschuhe wie der einfache Soldat. Mit ernster Miene schauten sie sich um und marschierten dann mit einer Schriftrolle bewaffnet geradewegs auf das ockerfarbene Haus zu, in dem, einer kurzen Erwähnung nach zu schließen, der Stiftskanzler wohnte.
Hatte Sebastian wohl
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