Mädchen und der Leibarzt
Vater. Sie griff nach ihrem Streuer, ließ feinen Sand über die Worte rieseln und beobachtete, wie die weißen Körner die überschüssige Tinte aufsogen. Vorsichtig blies sie die tiefschwarzen Krümel zur Seite, bis die Anrede klar und sauber zum Vorschein kam. Hochzuverehrender Herr Vater. Aurelia betrachtete die Tinte im Federkiel, als lägen darin die richtigen Worte. Besonnen schrieb sie weiter: Ihre unterthänigste Tochter bittet Sie, ihr gnädigst die freundliche Aufnahme im elterlichen … Sie hielt inne. Ihre schwangere Tochter wäre wohl zutreffender. Noch bevor die Tinte getrocknet war, zog sie einen dicken Strich quer über den Satz.
Stattdessen versuchte sie sich an einem Briefanfang an ihre Mutter. Sie fand keine Worte und verwarf diesen ebenso wie die Bittstellung an die Fürstäbtissin um baldige Bemäntelung. Und ein Brief an diesen charmanten und stattlichen Franzosen scheiterte bereits deswegen, weil sie Namen und Adresse nicht wusste. Warum hatte sie sich nur während ihres Aufenthalts in Wien mit ihm eingelassen? Was gäbe sie
jetzt darum, diese Ballnacht ungeschehen zu machen? Sie wollte doch nur ihre Sehnsucht nach Liebe stillen und nicht ein Kind. Sie wollte doch nur spüren, wie es war, geliebt zu werden.
Ihr Blick glitt auf ihren Unterleib, der das Geheimnis noch nicht verriet. Wenn Gregor nur endlich aus dem Krieg zurückkehren würde … Sie liebte ihn doch! Er würde sie verstehen, ihr den Fehltritt verzeihen, er würde für sie und das Kind sorgen. Ganz bestimmt.
Sie erhob sich und schaute aus dem Fenster. Doch außer den Wipfeln der Kastanienbäume, deren goldgelbe Blätter sich leise im Wind bewegten, rührte sich nichts. Auch die Felder weit draußen waren leer. Niemand, der herankam, um sie zu sehen. Alles verlassen, alles leer. Aurelia wandte sich ab. Sie setzte sich auf ihr Bett, nahm das Kissen in den Arm und vergrub ihren Kopf darin. Entsetzliche Szenen von gefallenen Soldaten drängten sich vor das geistige Auge. Überall blutüberströmte und verstümmelte Leiber. Sie konnte sogar in Gregors weit aufgerissene Augen sehen. Niemand hatte sie ihm geschlossen, niemand hatte sich mehr um ihn gekümmert.
Lange saß sie weinend da, bis keine Tränen mehr kamen. Mit verquollenen Augen starrte sie vor sich hin, und auf einmal glaubte sie, etwas Warmes zwischen ihren Beinen zu spüren. Gott sei Dank. Aurelia sprang auf. Endlich! Der Rote Baron war nur verspätet gewesen …
Sie hastete zur Waschschüssel neben ihrem Bett, hob mit zitternden Fingern ihre Röcke und fuhr mit einem Leinentuch über die Türe zur Wohnung des Roten Barons. Doch das Tuch blieb sauber und nahm ihr alle Hoffnung. Sie prüfte noch einmal. Nichts. Der übermächtige Wunsch hatte
ihre Sinne betrogen. Aber das Schluckbildchen musste doch helfen …
Wieder kam es ihr in den Sinn, sich im Vertrauen an den Äskulap zu wenden. Unruhig ging sie auf und ab. Nein, es würde sich alles von allein fügen. Und wenn nicht?
Entschlossen prüfte sie im ovalen Spiegel am Waschtisch den Sitz ihrer Frisur. Ihre eigentlich dunklen Haare waren weiß gepudert und zu einem kunstvollen Nest nach oben gesteckt. Eine Meisterleistung des Wiener Friseurs angesichts ihrer glatten Haare. Sie rückte ihr rotes Seidenkleid zurecht und kontrollierte ihre Haltung, bevor sie sich schließlich doch auf den Weg zum Leibarzt machte.
Aurelia hatte den festen Willen, die Sache durchzustehen. Erst als sie nach dem Ring im Maul des bronzenen Löwenkopfes griff und anklopfte, dachte sie an Umkehr.
»Herein!«, knurrte es, und Aurelia öffnete widerstrebend die Türe.
»Was willst du denn schon wieder hier? Habe ich nicht … Werte Gräfin von Hohenstein, Gnädigste! Welch edler Glanz in meiner Hütte. Kommen Sie nur herein!« Mit einer vollendeten Verbeugung wies er ihr den Weg zum Patientenstuhl. »Der Urlaub in Wien scheint Ihnen sehr gut bekommen zu sein. Gnädigste sehen wirklich ganz bezaubernd aus! Es wäre wirklich jammerschade, wenn sich die Gerüchte um die Stiftsauflösung bewahrheiten würden. Unser Haus verlöre ansonsten einen überaus reizenden Anblick. Eine wahre Augenweide sind Sie!«
Mit einem gekonnten Augenaufschlag schob sie sich an
ihm vorbei zum Patientenstuhl und ließ ihren Blick mit einem gespielten Lächeln über die Hirschgeweihe schweifen. »Wie ich sehe, sind Sie schon wieder sehr erfolgreich bei der Jagd gewesen?«
Der Äskulap lächelte süffisant. »Oh, ja. Wie kenntnisreich Ihr Blick doch ist. Diese Trophäe
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