Mädchen und der Leibarzt
schloss die Türe. »Guten Abend, werter Monsieur Dottore Tobler. Ich habe die Vögel gezählt und glaube, die richtigen Gänsefedern gefunden zu haben.«
»Glauben hilft dir in der Medizin nichts, merk dir das.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf den kleinen Holztisch, der an der Wand stand und auf dem ein Pergament ausgebreitet lag. »Spitz eine der Federn an und trage die Anzahl der Vögel in diese Tabelle ein.«
Helena zog die Stirn kraus.
»Kannst du nicht schreiben?«, fragte er, als er ihr Zögern bemerkte.
»Doch, gewiss.« Helena setzte sich auf den niedrigen Schemel und nahm die Feder zur Hand. Sie schaute sich noch einmal zu ihm um. »Verzeihen Sie, aber ich möchte gerne wissen, wozu ich die Eintragungen mache.«
»Ein Weib tut, was man ihm sagt.«
»Aber …«
»Und hör auf mit diesem Aber! Deine Widerworte sind das reinste Geschwür!«
»Geben Sie sich keine Mühe. Ich habe schon verstanden. Morgen in aller Herrgottsfrühe sind Sie das Geschwür los.«
»Du willst abreisen? Aber das geht doch nicht!« Sichtlich beunruhigt erhob er sich von seinem Schreibtisch.
»Das ist mir egal! Und wenn ich zu Fuß gehen muss.«
»Aber, ich wollte dir doch noch einiges beibringen.« Zum ersten Mal sah sie den Leibarzt eine Spur lächeln.
»Davon merke ich nichts!« Entschlossen legte Helena die Feder beiseite.
»Ich bin schließlich nicht da, um dir Vorträge zu halten«, erwiderte er weiterhin freundlich. »Aber wenn du mich fragst, so wirst du Antwort erhalten.« Zur Bestätigung nahm er neben ihr an dem kleinen Tisch Platz und hob auffordernd die Augenbrauen.
Die Macht der Fürstäbtissin schien stärker als gedacht. Ihre Abreise war also ein Druckmittel. Nun hatte sie den Leibarzt in der Hand.
»Das waren Sperlinge in der Hecke, nicht wahr?« Sie wartete gespannt. Weniger auf die Antwort, als auf seine Reaktion.
»Bist du sicher, dass es Sperlinge waren?«, fragte der Leibarzt ausgesprochen geduldig. Der Wolf im Schafspelz wirkte plötzlich wie ein niedliches Osterlamm. Er neigte sich ein wenig zu ihr. »Es könnte ein Sperling gewesen sein, aber du musst genauer hinsehen. So ist es auch bei den Krankheiten. Äußerlich ähneln sie sich, aber du kannst einem Patienten mit Schmerzen im linken Arm keinen Verband anlegen, wenn er es doch mit dem Herzen hat. Aber dazu kommen wir später. Nun lernst du erst einmal einen Sperling von einer Heckenbraunelle zu unterscheiden. Dieser Vogel hat nämlich im Gegensatz zum Sperling ein bleigraues Kopfgefieder. Außerdem ist sein Nest unverkennbar, sogar wenn es verlassen ist. Wie haben die Nester denn ausgesehen?«
»Ich weiß nicht, wie Vogelnester eben aussehen. Ehrlich gesagt habe ich nicht darauf geachtet. Sie haben nur gesagt, ich solle die Vögel zählen.«
»Du musst auf alles achtgeben! Wenn der Patient von Übelkeit berichtet, so darfst du nicht nur nach dem Magen sehen. Es kann auch vom Kopfe herrühren.«
»Übelkeit im Kopf?«
»Die Übelkeit ist im Magen, aber die Krankheit entsteht im Kopf. Zum Beispiel, wenn jemand vom Pferd gefallen ist und sich dabei den Schädel angeschlagen hat.«
»Sodann hätten Sie die Fürstäbtissin aber untersuchen müssen.«
»Untersuchen? Unsinn! Reine Zeitverschwendung ist das!«, brach es aus ihm hervor. »Die Damen haben schon genügend Zipperlein, glaube mir. Wenn ich da auch noch nachfragen würde, fiele denen nur noch mehr ein!« Er räusperte sich und setzte wieder sein breiiges Lächeln auf. »Zurück zum Nestbau, bevor wir uns dem Körperbau zuwenden. Das Nest besteht aus Halmen und Zweigen und ist außen mit Moos, innen mit Federn und Haaren ausgelegt. «
Für wen hielt er sie eigentlich? Wenn er wüsste, dass sie – als Frau – dem Medicus Roth sogar schon bei der Zergliederung eines Toten zugesehen hatte … Helena wandte sich demonstrativ der Liste zu und begann zu schreiben.
Der Leibarzt schaute ihr über die Schulter. »Warum machst du hinter jede Vogelart einen Strich und warum steht nur bei der Heckenbraunelle eine Zwei?«
»Nun, ich sah nur zwei Heckenbraunellen. Sonst gab es keinen einzigen Vogel«, verkündete sie innerlich triumphierend.
»Das kann nicht sein!«, herrschte der Äskulap sie an. »Die müssen sich irgendwo versteckt haben. Hast du auch das Laub umgegraben?«
»Gewiss. Ich fand keine Vögel, bis auf diese beiden …«
»Unsinn, du musst sie übersehen haben! Genauso wie dieser dahergelaufene Landarzt Jenner! Doch anstatt seinen Irrtum zu erkennen, redet er
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