Mädchen und der Leibarzt
bitteren Wirklichkeit zu entfliehen.« Er kam näher und tätschelte ihr die Wange. »Aber glaub nur weiter daran. Ich will dir nicht das Letzte nehmen, was du noch hast.«
Wo der Äskulap nur so lange blieb? Helena knurrte der Magen. Endlich hörte sie von draußen schnelle Schritte. Die Tür flog auf, und eine junge Frau kam hereingestürzt. Sie hielt ein kleines Mädchen mit hübschen dunklen Zöpfen in eine Decke gehüllt. Mehr konnte Helena nicht sehen, da es sein Gesicht unter den langen Haaren der Mutter verbarg. Deren Zopf hatte sich gelöst, Strähnen hingen
ihr in das hochrote, verschwitzte Gesicht. Die Frau achtete nur auf das Kind in ihren Armen, während sie um Hilfe flehte.
»Bitte, werter Monsieur Dottore Tobler! Sie müssen mir helfen! Mein kleines Mädchen hat ein ganz hitziges Geblüt und … Wer sind Sie denn?«
»Bitte beruhigen Sie sich. Der Leibarzt ist nicht da, aber er wird bestimmt gleich wiederkommen.«
»Das ist gut, das ist gut! Mein Mädchen kann kaum noch schlucken. Ich habe ihren Hals immerzu abwärts gestrichen, mit Bernsteinöl eingerieben und ihn mit warmen Tüchern belegt, auch ihren Buckel. Ich habe den guten Kopfbalsam auf die Stirn geschmiert, Majoran in die Nase gegeben und schließlich mit Rizinusöl purgiert, damit der Eiter wohl auf diese Weise aus ihr herauslaufen möge. Es kam auch gelber Brei, aber der Abszess wurde keinen Deut besser.«
»Da haben Sie ja schon sehr viel gemacht …«
»Helfen Sie meinem Mädchen! Sehen Sie doch, sie kann kaum noch schlucken. Ich kann Sie auch reich entlohnen, mein Mann verdient als Oberster Stallmeister recht gut. Er darf nur nichts davon erfahren, dass ich hier bin. Er würde mich blutig schlagen, wenn er wüsste, dass ich dem Herrgott mein Mädchen nicht zurückgeben will. Bitte helfen Sie mir! Ich könnte auch etwas vom Familienschmuck …«
»So beruhigen Sie sich doch bitte. Natürlich helfe ich Ihnen so gut ich kann!« Helena wandte sich dem kleinen Mädchen zu, das zu weinen begonnen hatte. »Wie heißt du denn?« Sie legte den Kopf schief, um den Blick der kleinen Patientin aufzufangen.
Trotzig schob das Mädchen die Unterlippe nach vorne.
»Das willst du mir nicht sagen? Schade, aber macht nichts. Dein Name ist nämlich bestimmt nicht so schön, wie meiner. Ich heiße Helena.«
»Lea ist viel schöner.« Sie drehte ihren Kopf ein wenig und sah Helena mit großen Augen an. »Bist du auch krank?«
»Ich weiß nicht. Magst du mal nachsehen, ob mir etwas fehlt?« Helena beobachtete mit weit aufgesperrtem Mund, wie sich das kleine Mädchen an der Brust der Mutter abstemmte, um nachsehen zu können.
»Du hast viel schönere Zähne als meine Mutter.«
Diese zog peinlich berührt ihr Kind zurück und kniff den Mund zusammen.
Helena versuchte die Situation zu retten, indem sie zu Lea sagte: »Du musst gut auf deine Zähne achtgeben. Weißt du, vom Schleim der Speisen bildet sich eine gelbe, manchmal sogar schwarze Kruste, die man nur noch mit besonderen Instrumenten entfernen kann. Das Bürsten und Kratzen ist für die Zähne gefährlich, wenn es nicht mit besonderer Vorsicht verrichtet wird, aber man kann etwas Kreide auf ein Tuch geben und damit die Zähne immer nach dem Essen abreiben. Soll ich dir zeigen, wie das geht?«
Lea nickte.
Ohne lange im Regal suchen zu müssen, entdeckte Helena die Flasche mit der richtigen Aufschrift. Nachdem sie etwas von der Kreide auf ein feuchtes Stück Leintuch gegeben hatte, bat sie das kleine Mädchen, den Mund zu öffnen.
Abwehrend hob Lea die Hand. »Du tust mir bestimmt weh.«
»Ach so, du hast Angst, dass der kleine Quälgeist in deinem Hals sich wehrt? Möchtest du ihn lieber behalten?«
»Nein!«
»Ja, aber wenn du deinen Mund nicht aufmachst, kann er doch nicht entkommen. Der sitzt jetzt in deinem Hals und kratzt und beißt, weil er endlich heraus möchte.«
Lea öffnete vor Erstaunen den Mund. Leider nicht weit genug, damit Helena etwas erkennen konnte.
»Hm, weißt du was? Wir werden ihn herauslocken. Quälgeister lieben Honig.«
»Wirklich?« Das Mädchen schaute ihr gespannt zu, wie sie den Honigtopf aus dem Regal holte. Unauffällig griff Helena dabei nach einer kleinen Lanzette und umwickelte sie mit dem Tuch, so dass die Spitze kaum mehr zu sehen war. Sie dachte kurz an den Leibarzt und ihr graute es bei der Vorstellung, Lea in seine Behandlung zu geben.
Auf ihren kleinen Wink hin setzte sich die Mutter wie selbstverständlich auf den rotsamtenen
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