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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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plötzlich etwas von Zugvögeln daher. Zugvögel! Dieser Engländer sollte besser seinen Kopf nicht zu sehr in den Wind halten, das verwirbelt das Hirn. Schließlich weiß jedes Kind, dass sich Vögel über den Winter in der Erde vergraben und im Frühling wieder hervorkommen. «

    »Verzeihung, aber es könnte doch durchaus sein, dass es so etwas wie Zugvögel gibt. Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum man um diese Jahreszeit die Vögel vermehrt in Richtung Süden fliegen sieht. Haben Sie sich das …«
    »Das glaube ich nicht! Irgendwo halten sich diese Biester sicherlich versteckt. Gib mir sofort den Umhang dort bei der Türe, ich werde selbst nachsehen!«
    »Aber die Sonne ist doch schon untergegangen.«
    »Im Gegensatz zu dir sehe ich die kleinen Biester auch bei Dunkelheit.«
    »Ich komme mit!«
    »Du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme. Haben wir uns verstanden?« Mit diesen Worten war der Leibarzt auch schon zur Tür hinaus.
    Und nun? Helena schaute sich um. Auf dem Tisch konnte nichts ihr Interesse wecken. Zwei Schreibfedern, einige Bogen unbeschriebenes Pergament und ihre Liste, deren Eintragungen den Äskulap in Aufruhr versetzt hatten.
    Ob sie es wagen sollte aufzustehen? Nur einmal die Löwenfüße des Schreibtisches anfassen! Vorsichtig, als könnten die Pranken zupacken, kniete sie sich nieder und strich über das Holz. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
    Sie erhob sich und schlich weiter durch den Raum. In einer dunklen Ecke baumelten Aderlassschalen an einem dieser Hirschgeweihe. Die Silberflächen spielten mit dem Schein der Kerzen und warfen ihn zurück. Ihr Herz klopfte. Dieser widerliche Aderlass … Sie kannte das nur zu gut. Ohne Aderlass keine Behandlung. Nur mit abgewandtem Kopf und zusammengebissenen Zähnen hatte sie ihn jedes Mal tapfer hinter sich gebracht.

    Wahrscheinlich hingen jedoch sämtliche Instrumente hier nur zur Abschreckung, denn es sähe dem Äskulap nicht ähnlich, seinen guten Ruf durch Todesfälle zu beschmutzen. Schließlich maßen die Leute einen guten oder schlechten Doktor eben nach der Anzahl der Todesfälle und die lag bei den Menschenaufschneidern naturgemäß ziemlich hoch. So hatte man dem Chirurgen in Wernigerode nach langem Hin und Her endlich eine Kutsche zugebilligt, damit er schneller zu den Patienten gelangen konnte. Aber ein halbes Jahr und einige Todesfälle später hatte der Chirurg doch wieder zu Fuß gehen müssen …
    Helena seufzte. Eigentlich sollte sie sich wieder gehorsam an den Schreibtisch setzen, wenn sie morgen nicht ebenfalls nach Hause laufen wollte. Aber die Weinflaschen dort auf dem Regal mit ihrem eigenwilligen Inhalt zogen sie erneut in ihren Bann.
    Diesmal gelang es ihr auf Anhieb, die lateinischen Beschriftungen zu entziffern und zu übersetzen: Honig zur Behandlung von Entzündungen, Wermutextrakt gegen Bleichsucht sowie gegen Magenschwäche und Hypochondrie, flaschenweise Opium als Allheilmittel und Moschus in rauen Mengen gegen schwere Zufälle wie Typhus, Wundbrände oder Schlagflüsse. Außerdem noch zahlreiche Mittel gegen den unterdrückten Monatsfluss der Frau und für den Notfall sogar Mutterkorn gegen eine ungewollte Frucht im Leib.
    Mit dem Gefühl, nichts Neues gelernt zu haben, nahm sie noch das Gnadenkraut zur Beleidigung des Darms zur Kenntnis, mit dem hatte sie auch schon gute Erfahrung gemacht, wenn es darum ging, einen künstlichen Durchfall herbeizuführen. Da hörte sie plötzlich ein Geräusch draußen im Flur.

    Sie huschte zum kleinen Schreibtisch zurück und setzte sich auf ihren Schemel, als sei nichts gewesen. Es klopfte, und Helena antwortete mit einem verwunderten ›Herein?‹.
    Anstelle des Leibarztes kam eine kleine ältere Frau in Trauerkleidung herein, die sich schüchtern im Raum umsah.
    »Oh, Verzeihung. Ich dachte, der ehrenwerte Herr Doktor …«
    »Er ist gerade auf den Stiftshof gegangen«, gab Helena bereitwillig Auskunft.
    »Oh. Ja, dann …« Die Frau nestelte verlegen an der Schürze ihres dunklen Kleides. Ihre Haare waren unter einer einfachen Haube versteckt und über ihrem Dekolleté lag ein schwarzes Brusttuch ohne jeglichen Zierrat.
    »Sie können gerne hier auf ihn warten. Er wird sicher gleich kommen und nichts dagegenhaben.« Helena dachte an seine Worte, dass man Patienten schließlich nicht vor der Türe stehen lassen durfte.
    »Oh, das ist nett. Aber ich komme lieber ein andermal wieder. Vielen Dank.«

    Ernestine zog die Türe

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