Mädchen und der Leibarzt
sachte ins Schloss und vermied es dabei, den bronzenen Löwenkopf anzusehen. Bedrückt schlich sie den Höhlengang zurück. Einerseits wollte sie schnell wieder zu ihrer Tochter, der es seit dem tödlichen Kutschunfall des Vaters überhaupt nicht gutging, andererseits konnte sie selbst kaum den Anblick des Leichnams ertragen, den man heute Mittag in ihre Stube getragen hatte. Dazu kam noch, dass sie ohnehin keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, seit sie gestern Abend diesen knötchenartigen
Ausschlag auf ihren Händen entdeckt hatte. Sie musste mit dem Leibarzt sprechen, er musste sie behandeln. Und wenn es sie ihren letzten Kreuzer kosten würde. Doch in seiner gruseligen Höhle würde sie nicht auf ihn warten. Dann schon lieber auf dem nächtlichen Stiftshof.
Der unwirtliche abendliche Herbstwind schlug ihr entgegen, als sie die Tür zum Stiftshof aufzog. Der Mond erhellte den Weg, der an der Kirche vorbei und die Kutschenauffahrt hinunter zu ihrem Haus führte. Doch sie hätte diesen Weg auch blind gefunden. Dreißig Jahre lang war sie ihn jeden Morgen und jeden Abend gegangen. Keinen Tag hatte sie bei der Küchenarbeit gefehlt, bis ihre Hände wegen der Gicht nicht mehr flink genug gewesen waren. Seither versuchte sie, sich durch ihre kleine Landwirtschaft, die aus ein paar mageren Kühen bestand, ein paar Kreuzer zum Kutscherlohn ihres Mannes dazuzuverdienen. Bisher hatte es immer für das Nötigste gereicht. Aber jetzt? Warum bestrafte sie der Herrgott? Warum schickte Er ihr diese Krankheit auf den Leib? Warum hatte der liebe Gott ihren Mann zu sich genommen? Und warum raubte Er der Tochter damit beinahe den Verstand? Warum nur?
Ernestine faltete die Hände und sah in den funkelnden Himmel. Doch anstelle einer Antwort vernahm sie plötzlich die zornige Stimme des Leibarztes. Sie erspähte ihn im Stiftsgarten, wie er mit einem Stock in der Hecke herumstocherte und dabei wilde Flüche ausstieß.
Ernestine nahm allen Mut zusammen und ging auf ihn zu. »Verzeihen Sie, werter …«
Der Leibarzt fuhr herum und langte sich ans Herz. »Bist du wahnsinnig? Willst du mich umbringen? Scher dich deines Wegs!«
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wollte Sie nur wegen meiner Hände etwas fragen … und weil Sie nicht da waren, dachte ich …«
»Das hat auch noch morgen Zeit! Siehst du nicht, dass ich mit wichtigeren Dingen beschäftigt bin?«
»Gewiss, Verzeihung. Ich dachte nur, es könnten vielleicht die … die Blattern sein und dann wäre morgen unter Umständen …«
Der Leibarzt wich einen Schritt zurück. »Die Blattern sagst du? Was treibst du dich dann noch hier draußen herum? «
»Oh, ich wollte doch nur zu Ihnen. Außerdem ist es zu Hause kaum auszuhalten. Mein Mann ist doch verstorben, und der Kutschunfall hat seinen Leichnam so schrecklich entstellt. Und meine Tochter benimmt sich so seltsam. Es geht ihr überhaupt nicht gut.«
»Ja, was denn nun? Fasse dich kurz. Du weißt, meine Zeit ist kostbar.« Der Leibarzt griff in seine Westentasche, holte eine Sanduhr heraus und drehte sie mit einem Ruck um. »Nun?«
»Oh, bitte nicht, Herr Doktor.«
»Willst du mit mir diskutieren oder dich behandeln lassen? Also?«
»Vielleicht könnten Sie sich bitte meine Hände besehen, ob es wirklich die Blattern sind.«
Er hob seine Lampe und warf einen despektierlichen Blick auf ihren Ausschlag an Händen und Unterarmen. »Hast du kranke Kühe auf der Weide?«
»Wie bitte? Ja, habe ich. Aber woher wissen …?«
»Die Blasen am Euter deiner kranken Kühe haben sich beim Melken auf deine Hände übertragen. Für dich sieht
das vielleicht aus wie Blattern, es sind aber nur ganz einfache Melkerknoten. Und da du anscheinend nicht in der Lage bist, die billigsten Krankheiten selbst zu unterscheiden, und deshalb meine kostbare Zeit in Anspruch genommen hast, macht das … zwei Sanduhren à einen Kreuzer, zuzüglich einer Untersuchungsgebühr von fünfzehn Kreuzern, also siebzehn Kreuzer.«
»Herr Doktor, haben Sie doch Mitleid. Wovon soll ich das bezahlen?«
»Du kannst nicht bezahlen? Sodann gebe ich dir hiermit einen guten Ratschlag kostenlos dazu: Wenn dich wirklich die Blattern heimsuchen, so brauchst du mich nicht mehr zu rufen. Alsdann gib das Geld lieber gleich den Totengräbern. «
»Aber unter den Bauern erzählt man sich, dass die Milch der kranken Kühe vor den Blattern schützt.«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Märchen haben den armen Leuten schon immer dabei geholfen, der
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