Mädchen und der Leibarzt
Behandlungsstuhl, und Lea thronte wie eine Prinzessin auf ihrem Schoß.
»Soll ich dir noch ein Geheimnis verraten?«, flüsterte Helena und ging ganz nahe an Leas Ohr. »Sobald wir den Geist gefangen haben, bekommt er keinen Honig mehr. Dann gehört der Topf dir ganz alleine.«
Lea drehte sich zu ihrer Mutter um, die ihr aufmunternd zunickte. Nun war die Kleine nicht mehr zu bremsen. Sie sperrte ihren Mund auf, so weit sie nur konnte.
In diesem Moment flog die Tür auf, und der Leibarzt kam hereingestürmt. »Diese Ernestine hat mir alle Vögel verscheucht! Nun kann ich morgen noch einmal … Was ist denn hier los?« Er rang nach Luft. »Was tust du da? Fort von meinen Patienten!«
Helena ließ den Zorn an sich abprallen. Statt eine Antwort zu geben, widmete sie sich wieder dem Kind, das den
Mund vor Schreck immer noch weit aufgerissen hatte. Konzentriert besah sie sich in dem diffusen Licht den Abszess. Lea hielt vollkommen still, als Helena sich mit der umwickelten Lanze näherte. Auch der Leibarzt sagte nichts mehr. Es war totenstill, als sie den Schnitt setzte. Schnell beugte sie den Kopf des Mädchens nach vorne und hielt ihr eine der bereitstehenden Schüsseln vor. Lea schrie und spuckte blutigen Eiter aus. Helena strich ihr sanft über die Haare und nickte der Mutter, die ihr Kind fest umklammert hielt, beruhigend zu. Als ihre Tochter sich jedoch bald darauf leise wimmernd in ihren Arm kuschelte, begriff sie, dass das Schlimmste überstanden war.
Mit einem Seitenblick auf den Leibarzt drückte Helena der Frau den Honigtopf in die Hand und flüsterte ihr zu: »Geben Sie Lea viel von dem Honig in warmem Salbeisud aufgelöst zu trinken und kommen Sie morgen Vormittag noch einmal vorbei.«
Die Frau verabschiedete sich unter großen Dankesworten. Als Helena die Türe hinter ihnen schloss, zog sie in Anbetracht des zu erwartenden Donnerwetters das Genick ein und wandte sich schicksalsergeben dem Leibarzt zu. Der jedoch setzte sich wortlos an den Schreibtisch und griff zur Feder.
Eine Weile lang blieb Helena stehen, dann ließ sie sich geräuschlos auf ihren Hocker nieder. Sie durfte noch nicht gehen, das wusste sie. Er war noch nicht mit ihr fertig. Wenn sie doch nur irgendetwas finden würde, womit sie sich nützlich erweisen könnte. Doch sie wagte nicht zu fragen.
Wie lange sie stumm neben dem Leibarzt gesessen hatte, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls musste er irgendwann zur Lichtputzschere greifen. Das Zischeln der Flamme war das
einzige Geräusch seit einer Ewigkeit, und Helena erwachte aus ihrer Erstarrung.
»Verzeihen Sie, Monsieur Dottore Tobler, könnte ich wohl auch eine Kerze bekommen?«
»Wozu?«, fragte der Leibarzt, ohne sich von seinen Blättern abzuwenden.
»Nun, ich möchte gern … Darf ich vielleicht noch etwas lesen? Ein medizinisches Lehrbuch oder dergleichen?«
»Ich bin dein Lehrmeister und sonst niemand. Schon gar nicht ein Buch.« Abfällig schaute er sich um. »Bücher! Siehst du hier auch nur ein einziges Buch?«
»Nein.« Helena sank auf ihrem Hocker zusammen. »Ich dachte nur … vielleicht … damit ich etwas lerne. Ich dachte, Sie wollten mir beibringen, wie man Patienten behandelt. Stattdessen bestrafen Sie mich dafür.«
»Gewiss. Wenn ich dir befehle, während meiner Abwesenheit sitzen zu bleiben und nichts anzurühren, dann hast du diesem Befehl Folge zu leisten.«
»Aber ich …
»Ein falscher Schnitt, und du hättest sie umgebracht!«
Getroffen senkte Helena den Kopf.
»Überhaupt sollten wir es für heute mit dem Unterricht belassen. Trage nur noch hier in die Tabelle den heutigen Zustand des Rasens im Stiftsgarten ein. Farbe, Länge, Dichte, auffällige Veränderungen. Dazu bin ich nämlich jetzt nicht mehr in der Verfassung.«
Helena wollte etwas erwidern, aber der Leibarzt fuhr dazwischen: »Und nun schreibe das Weib und halte sein Maul!«
»Verzeihung, aber … Sie haben mir nicht gesagt, dass ich auch auf den Rasen achten soll.«
»Das hättest du aber. Einen solch fettgrünen Rasen findest du nämlich sonst nirgendwo. Ich habe erfolgreich mit verschiedenen anregenden Mitteln experimentiert.«
»Aha!« Helena ignorierte seinen böswilligen Blick. »Um den Rasen soll man sich kümmern, aber die Patienten lieber ihrem Schicksal überlassen?«
»Das kommt ganz darauf an! Manchmal hat es nämlich sogar etwas Gutes, wenn der elende Chirurg nicht beikommt und ich den dreckigen Aderlass einmal mehr selbst vornehmen muss. Und so habe ich den Herrn
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