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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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vergangene Bilder in ihr auf. Friedemar als kleiner Junge, wie er mit Steinen auf dem Hof spielte. Die ersten scheuen Blicke, die sie als Kinder ausgetauscht hatten. Ihre heimlichen Treffen am Bach. Der erste Kuss. Der unvergessliche Moment, in dem er um ihre Hand anhielt … Dann zogen Schatten vorüber. Seine dunkle Gestalt in der Küche der Großmutter, der Schürhaken in seiner Hand.

    »Ich habe mich entschieden.« Gregors Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Ich werde zu Aurelia gehen. Noch heute Nacht, wenn im Stift alles ruhig ist, schleiche ich mich zu ihr und werde sie bitten, meine Frau zu werden. Sonst werde ich noch verrückt! Ich möchte sie bei mir haben, und zwar für immer.«
    »Gregor, das dürfen Sie nicht! Es ist gut möglich, dass Sie unter einer ansteckenden Krankheit leiden. Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle, sonst … sonst werde ich Sie anzeigen!«
    Gregor starrte sie entsetzt an. Helena hoffte, dass er den Ernst der Lage begriffen hatte, und zündete die Kerze auf dem Schreibtisch an. Sie wollte vergessen, was um sie herum geschah. Einfach vergessen. Das Licht fiel auf ein Schachbrett aus Marmor, dessen Figuren mitten in einer Partie verlassen worden waren. Daneben stand ein Engel aus Stein, der kniend in einem Buch las. Vorsichtig nahm Helena die kleine Skulptur in die Hand. Unglaublich, welch filigrane Arbeit der Steinmetz geleistet hatte. Der Engel trug ein prächtig gemeißeltes Federkleid und die Buchseiten wirkten wie echtes Papier. Die steinernen Gesichtszüge hätten lebendig sein können, und sein Lächeln war voller Zufriedenheit. Behutsam setzte sie den Engel wieder auf die Tischplatte und besah sich die Weltkugel. Fliegen müsste man können! Wenn sie nur wüsste, wo auf dieser riesigen Kugel sie sich gerade befanden. Sanft strich sie über das dunkle, mit roten und gelben Linien bemalte Holz.
    »Gregor, wissen Sie vielleicht… Gregor? Was ist los?«
    Er hatte sich versteift und die Augen nach oben verdreht. Mit unnatürlich gestreckten Gliedmaßen fiel er auf dem
Bett nach hinten. Im Rhythmus seines heftigen Atems zuckte sein Körper und krampfte sich zusammen.
    »Gregor!« Helena packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Er zitterte, wie sie es bisher nur bei Menschen, die von einem Nervenfieber befallen waren, gesehen hatte. Aber die kamen nicht so plötzlich.
    »Gregor, bitte, sagen Sie doch etwas!« Unsanft griff sie ihm ans Kinn. Schaumiger Speichel lief aus seinem Mundwinkel, sein Gesicht war von Tränen überschwemmt. Da ließ ein hohler tierischer Laut Helena zusammenfahren. Er röchelte, und es gurgelte in seiner Kehle. Der Blick aus den starren, glasigen Augen war seltsam entrückt. Was ging hier vor sich? War er ein Werwolf? Ein Blutrinnsal trat aus seinem Mund und rann über ihre Hand. Sie stieß ihn von sich. Fassungslos betrachtete Helena das Spektakel, unfähig davonzulaufen.
    Wo bleibt mein gesunder Menschenverstand?, schalt sie sich. Was immer Gregor hatte, er brauchte jetzt sofort Hilfe. Wenn ihr nur jemand beistehen könnte … Doch damit würde sie den Deserteur ans Messer liefern. Er war doch auf sie angewiesen. Wieso gab es denn hier niemanden … Ein Buch! Wo waren die medizinischen Lehrbücher? Sie sah sich hektisch um und schlüpfte bei dem Schlangensymbol zwischen die Regale.
    Als sie mit einem Stapel Bücher im Arm wieder hervorstürzte, hatte sich Gregor entspannt und lag ruhig da. Der Spuk war vorbei. Helena legte die Bücher auf dem Tisch ab und trat vorsichtig näher. Tatsächlich, er schlief. Tief und fest, als sei nichts gewesen. Unheimlich war das. Medicus Roth hätte bestimmt sofort gewusst, wo der Anfall herrührte.

    Sollte sie ihn untersuchen? Oder lieber bei der Methode des Äskulap bleiben: Solange der Patient nicht klagt, fehlt ihm nichts? Helena zögerte, entschied sich dann jedoch für eine Untersuchung. Mit zitternden Fingern machte sie sich an Gregors Hemd zu schaffen. Wie konnte man nur so tief schlafen? Das war doch nicht normal. Helena atmete scharf ein, als sie die angeblich verheilte Schussverletzung freilegte. Sie war auf dem Feld nur notdürftig versorgt worden, wahrscheinlich von einem Kameraden, weil die Feldärzte mit dem Zusammenflicken von verletzten Soldaten nicht mehr nachkamen. Jetzt wusste sie zumindest, weshalb ihm dieser beißende Geruch anhaftete: Die flammend rotgelbe Wunde mit schwarzbraunen Rändern stand klaffend offen. Deshalb hatte Gregor seinen Arm so steif gehalten! Wie

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