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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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hatte er die Schmerzen nur ertragen können? Aber sicher gab es noch einen anderen Grund für diese merkwürdige Ohnmacht. Die Ursache dafür musste sie noch herausfinden, und in die Nähe der Wunde sollte unverzüglich eine Fontanelle gelegt werden, um zusätzliche, heilende Kräfte an die Körperstelle zu locken. Ein Stück Kerzendocht war kein Problem, aber wo eine Nadel finden? Aber … hatte Sebastian nicht eine beigefügt, als er ihr neue Kleidung brachte? Hektisch legte Helena alle Utensilien bereit und zog die Kerze näher heran. Da wachte Gregor auf.
    »Helena? … Helena, wo bin ich? Was ist passiert?«
    »Gregor? Geht es dir wieder besser? Du warst wie von Sinnen! Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.« Jetzt hatte sie ihn in der Aufregung auch noch geduzt. Aber das war ihr nun gleichgültig.
    »Das tut mir leid.« Er blinzelte und reckte sich vorsichtig, so dass das Stroh in der Matratze raschelte. »Das war wohl
wieder einer meiner Anfälle. Dabei habe ich mir auf die Zunge gebissen.« Mühsam rappelte er sich auf und stützte sich auf die Ellenbogen ab. Da durchfuhr ihn sichtlich ein Schmerz, und er sank zurück aufs Bett. »Diese Anfälle sind ein weiterer Grund, warum ich aus der Armee geflohen bin. Der Äskulap sagte mir bei einem meiner Besuche, ich leide an der ›Heiligen Krankheit‹. Er gab mir Baldrianwurzel und Chinarinde für das Geblüt und sagte, dass die Krankheit von einer im Kopf umherirrenden Blutmasse verursacht würde, die bei einem Anfall das Gehirn reizt. Dabei entsteht wohl ein Giftstoff, der sich durch verschiedene Entleerungswege einen Ausgang durch den Körper sucht. Der Äskulap empfahl mir, eine Schwefelkur auf dem Lande zu gebrauchen und mein Haupthaar mit einer Perücke zu bedecken, um den Kopf vor weiteren Verwirrungen zu schützen. Aber das hilft nicht …« Gregor gähnte unverhohlen. »Helena, bitte verzeih. Aber ich bin unendlich müde, ich möchte nur noch schlafen.«
    Kaum hatte er ausgesprochen, fielen ihm die Augen zu.
    Helena betrachtete ihn kopfschüttelnd und machte sich dann daran, seine Wunde zu versorgen. Hoffentlich schlief Gregor weiter … Dieses verfluchte Licht! Endlich hatte sie den Kerzendocht durch das weite Nadelöhr gefädelt. Sie nahm nahe bei der entzündeten Stelle vorsichtig eine Hautfalte, setzte die Nadel an, biss dann selbst die Zähne zusammen und rammte den Spieß durch die Haut. Gregor zuckte zusammen und raunzte etwas, aber dann war wieder Ruhe. Der Docht saß perfekt. Dafür fühlte sie sich, als sei ihr selbst eine Fontanelle gelegt worden. Erschöpft lehnte sie sich zurück, um der aufsteigenden Übelkeit entgegenzuwirken. Jetzt musste sie nur noch seinen Arm abtasten, um zu
sehen, ob immer noch eine Kugel darin steckte und die Knochen deswegen eine unnatürliche Lage angenommen hatten. Helena schickte ein Stoßgebet zum Himmel, Gregor möge weiterschlafen.
    Sie wand den Blick ab und verließ sich ganz auf ihren Tastsinn. Der steinerne Engel las geflissentlich weiter in seinem Buch. Niemand beobachtete sie. Mutig griff sie nach seiner Hand und fuhr mit den Fingern die Haut entlang, um die Knochen zu spüren, bis sich ihre Befürchtung bestätigte. Der Oberarmknochen wies eine beachtliche Fraktur auf. Damit war der Arm wohl verloren. Man hatte zwar die Kugel entfernt, aber die Knochen ihrem Schicksal überlassen.
    Helena strich sich eine verschwitzte Locke aus der Stirn. Wenn sie nur mehr über die Arbeit eines Chirurgen wüsste! Hektisch ging sie den wahllos herausgegriffenen Bücherstapel durch: Boerhaave. Lavoisier. Morgagni. Hufeland. Heister. Lorenz Heisters Chirurgie . Sehr gut! Sie schlug das Buch auf. In welcher alles, was zur Wundarznei gehöret nach der neuesten und besten Art gründlich abgehandelt, in vielen Kupfertafeln die neu erfundenen und dienlichsten Instrumente, nebst den bequemsten Handgriffen der chirurgischen Operationen deutlich vorgestellt werden. Das hörte sich doch gut an! Helena blätterte weiter und schielte dabei zu Gregor hinüber. Von den geschlossenen Wunden, von den Zerquetschungen, von den Hauptwunden. Hier stand es: Von den Brüchen. Wo die gebrochenen Gebeine voneinander gewichen sind, ist eine Ausdehnung notwendig. Na wunderbar! Wie dies zu verrichten sei: Dazu setze man den Patienten auf einen Stuhl. Man lasse ihn festhalten oder man binde ihn fest. Bis die natürliche Länge des Gebeins wieder erreicht sei, soll nun am unteren Gebein von
einem Diener so stark wie nötig gezogen werden.

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