Mädchen und der Leibarzt
Fachwerkhaus daneben mit den grünen Fensterläden, wo die verwitterte Holztüre mit einigen neuen Brettern ausgebessert war? Auf genau dieses steuerte der Leibarzt nun zu, und Helena eilte ihm hinterher.
Er hatte kaum angeklopft, da trat eine ältere Frau in schwarzer Kleidung heraus, den Blick zu Boden gesenkt. Ihre Wangen waren eingefallen, tiefe Runzeln umgaben ihre Augen und den Mund. Helena erkannte die Frau sogleich wieder.
»Endlich! Endlich kommen Sie, werter Monsieur Dottore Tobler«, sagte die Wittfrau und hob den Kopf. In ihren dunklen Augen schimmerte es feucht. »Ich habe schon achtzig Rosenkränze und fast einhundert Vaterunser lang auf Sie gewartet.«
»So, so, Ernestine. Nun sag an, denn so viel Zeit habe ich nicht.«
»Oh bitte, drehen Sie Ihre Sanduhr noch nicht um, Sie sind doch noch nicht einmal im Haus. Oh, da haben Sie aber ein liebes Mädchen bei sich, werter Dottore! Wir haben uns schon gesehen, nicht wahr? Sie ist wohl auf Besuch bei Ihnen? Ganz allerliebst. Eine Nichte?«
»Sozusagen. Wozu bin ich denn nun eigentlich gekommen? Du hättest mir schon längst sagen können, was dir fehlt. Willst du noch einmal Geld für deine Melkerknoten ausgeben?«
Ernestine hielt ihre Hände vor der Schürze verschränkt,
und Helena sah, dass sich auf der faltigen Haut, zwischen Altersflecken und leicht hervorgetretenen Adern, erbsengroße, rot umränderte Knötchen gebildet hatten. Helena kannte die Krankheit nur zu gut. Allerdings nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus eigener Erfahrung. Die Knoten waren nahezu schmerzlos und verschwanden nach einigen Tagen spurlos, ohne dass der Kranke andere Menschen anstecken konnte. Folglich nicht mehr als ein lästiges Übel.
Der Leibarzt beäugte Ernestine kritisch. »Hast du mich deshalb gerufen?«
»Oh, es ist nicht wegen meiner Hände. Ich muss mich ständig übergeben, kann kein Essen mehr bei mir behalten. Vorhin habe ich mich aufgerafft und wollte Brot backen, aber nicht einmal das ist mir gelungen. Und meiner Tochter geht es noch viel schlechter als mir. Dabei sollte sie so nötig etwas essen. Es ist alles so furchtbar, wissen Sie. Wenn ich am Totenbett meines Mannes vorübergehen muss, verlässt mich beinahe die Kraft. Ich mag schon gar nicht mehr in die Stube hinein. Er ist so schrecklich entstellt durch den gewaltsamen Unfall.«
»Das kommt davon, weil er sonntags gearbeitet hat. Im Übrigen scheint dein Maul ja trotz allem noch gut zu funktionieren – wir wären alsdann bei der zweiten Sanduhr. «
»Oh bitte, werter Monsieur Dottore Tobler. Seien Sie so gnädig und sehen Sie wenigstens nach meiner Tochter. Ihr geht es wirklich sehr schlecht.«
»Wenn du mir sagst, was ihr genau fehlt, wird es nicht so teuer.«
»Oh, das weiß ich doch nicht. Haben Sie doch Mitleid, jetzt, da es mir so sehr am Geld mangelt. Weil doch auch
noch der Verdienst von meinem Mann, Gott hab ihn selig, ausfällt … Kommen Sie doch bitte herein, dann können Sie nach meiner Tochter sehen.«
»Nur nicht so eilig!« Der Leibarzt hob abwehrend die Hand. »Helena, reiche mir den ›Essig der vier Räuber‹, vorher setze ich keinen Fuß in dieses verseuchte Haus.«
Helena, angewidert über seinen Tonfall, gehorchte dennoch seinem Befehl. Sie beugte sich über den Inhalt der Tasche und suchte hastig nach einem Fläschchen mit der Aufschrift Essig der vier Räuber. Zu ihrer Erleichterung fand sie es sehr schnell zwischen all den Tiegeln, Fläschchen und Instrumenten.
Der Leibarzt drückte Helena seinen Stock in die Hand und verteilte den nach Minze und Lavendel riechenden Essig großzügig auf Gesicht und Hände, nahm einen ordentlichen Schluck, gurgelte und spuckte ihn vor der Türschwelle aus. »Was gegen die Pest gut war, kann hier erst recht nicht schaden.« Er bückte sich unter dem Türbalken hindurch und betrat die niedere Küche.
»Mein Beileid«, sagte Helena voller Mitgefühl und ging an der Wittfrau vorbei, die ihr dankbar zunickte.
In der winzigen Küche fanden sie kaum zu dritt Platz. Auf dem Regal neben dem gemauerten Herd lagerten nur wenige Vorräte: drei Zwiebeln, einige Kartoffeln und eine Handvoll Esskastanien. Auf dem Tisch stand eine Holzschüssel, über deren Rand der Brotteig quoll.
Obwohl die Stubentür geschlossen war, drang der süßliche Leichengeruch bis zu ihnen vor, selbst der Rauch des schwachen Feuers konnte ihn nicht überdecken. Helenas Magen schnürte sich zu.
»So, nun komm zur Sache, Ernestine. Der Gestank hier
in der Hütte ist ja
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