Mädchen und der Leibarzt
mich aufs Glatteis geführt, indem Sie behauptet haben, es sei ein Tier da drin!«
Der Leibarzt machte eine ausladende Handbewegung. »Bitte, hier ist die Türe. Pack deine Sachen und geh! Ich brauche dich nicht! Aber wundere dich nicht, welche Märchen dir kranke Leute auf deinem Weg erzählen werden. Wohl klagen sie über Rückenschmerzen und haben es doch mit den Nieren. Himmelherrgott! Was ist da schon ein Kaktus gegen einen Igel?«
Voller Zorn hätte Helena am liebsten eine der Arzneiflaschen nach dem Äskulap geworfen. Aber sie wusste auf die Schnelle nicht einmal, welche davon die Scheußlichste wäre. Und am meisten wurmte sie die Tatsache, dass er sich im Recht befand und seine Übung gelungen war.
»Geh!«, forderte er sie noch einmal auf und hielt ihr die Tür auf. »Ach, und falls es dich noch interessieren sollte: Auf die kleine Göre und ihre Mutter hast du umsonst gewartet. «
»Warum? Was ist geschehen? Hat sich der Abszess verschlimmert? «
»Nein. Wie durch ein Wunder ist alles gutgegangen. Allerdings kam das Fieber nicht nur vom Hals.«
Helena hielt gespannt den Atem an.
»Heute Nacht sind bei der Göre die Blattern ausgebrochen. «
»Aber das … das kann doch gar nicht sein!«
»Es ist, wie ich sage. Ein Diener war heute früh da und hat mir davon berichtet.«
»Aber sie hatte keinen roten Ausschlag!«
»Seit wann zeigen sich Blattern zuerst im Gesicht?« Der Leibarzt griente und er hob die Stimme unnatürlich hoch: »Aber, werter Monsieur Dottore Tobler, man müsste die Patienten gründlich untersuchen.«
Eine Mischung aus Trauer und Wut stieg in ihr empor und sie wusste nicht, was sie ihm erwidern sollte.
Der Leibarzt ließ die Tür ins Schloss fallen und setzte sich wieder; dann faltete er die Hände über dem Bauch und lehnte sich zurück. »Wohlan, da hat die kleine Hexe wohl noch viel zu lernen. Ich habe das Kind nicht angerührt und weiß doch längst von den Blattern.«
»Und warum gehen Sie dann nicht zu ihr? Warum tun Sie nichts?«
»Weil man in diesem Fall nichts tun kann, außer auf den Tod zu warten. Können wir nun endlich zu den Patienten gehen, die meiner Hilfe bedürfen? Oder hast du noch irgendwelche schlauen Einwände? Du lernst jetzt bei mir, so hast du es gewollt. Ich hoffe, du hast Geld bei der Hand, um dir anständige Kleidung zu beschaffen. So wie du herumläufst, ist es eine Schande für mich. Zumindest ein scharlachroter Rock sollte es schon sein.«
»Warum ist das denn nötig? Meine Kleidung ist sauber.«
»Weil es zur medizinischen Politik gehört, wohlgeputzt einherzugehen.«
»Wie viele Kreuzer bekomme ich denn eigentlich für meine Mithilfe von Ihnen?«
»Wie viele Kreuzer? Nicht einen Heller bekommst du!
Warum sollte ich denn einem Klotz am Bein etwas bezahlen? Damit er sich am Ende gar noch festwächst?«
Helena schwieg. »Wo müssen wir denn hin?«, fragte sie schließlich.
»Die Wittfrau des Kutschers ist leidend. So, und ab jetzt hältst du gefälligst dein Maul, damit wir uns recht verstehen. Hier, du darfst meine Tasche tragen.«
Als sie das Stiftsgebäude verließen, nötigte der Leibarzt Helena, auf dem Weg stets drei Schritte hinter ihm zu gehen. Der Herbstwind hatte sich etwas gelegt, die Wärme war noch einmal zurückgekommen. An der Hecke blieb der Äskulap unvermittelt stehen und schaute sich verstohlen um. Als er sich unbeobachtet wähnte, nahm er seinen Gehstock und stach wie ein Besessener in das Laub. Es raschelte, Zweige knickten, begleitet von seinen unterdrückten Flüchen. Unversehens bog ein Diener um die Ecke, der gerade die Kutschenauffahrt zum Stift hinaufgekommen war. Eilends stützte sich der Leibarzt auf seinen Stock, als sei nichts gewesen und bedachte den Diener mit einem stakkatohaften Nicken, der ihn wiederum mit einer tiefen Verbeugung zurückgrüßte. Kaum war der Diener vorüber, ging der Leibarzt hoch erhobenen Hauptes weiter. Doch wie beiläufig hieb er immer wieder seinen Stock in die Hecke. Helena schaute in die andere Richtung, um ihr Grinsen zu verbergen.
Vor dem Haus des Stiftskanzlers fiel sie noch ein paar Schritte hinter den Leibarzt zurück. So gingen sie weiter die Auffahrt hinunter, bis sie durch das Tor hinaustraten und zu
den kleinen, dicht gedrängten Häusern entlang der Schlossmauer kamen, wo sich die Stiftsbediensteten angesiedelt hatten. Wenn sie nur wüsste, in welchem der Häuser die kleine Lea wohnte! Vielleicht in dem zweistöckigen, dessen Giebel sich nach vorne neigte, oder in dem
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