Mädchen und der Leibarzt
Handwerkers gepasst hätte. Dort stand ihr Frühstück unberührt auf dem Silbertablett. Sein Magen knurrte, und er kämpfte kurz mit seinem Gewissen. Dann wandte er sich wieder ab und setzte sich auf das Bett. Er
nahm das Kopfkissen mit ihren Initialen in die Hand und strich sanft über die blaue Seide. Er würde hier warten, und zwar so lange hier sitzen und warten, bis sie zurückkäme.
»Aurelia Gräfin von Hohenstein«, kündigte der alternde Kammerdiener Borginino der Fürstäbtissin ihr Erscheinen zur Kapitelversammlung an. Seine Stimme durchdrang den Raum und war doch kaum mehr als ein Flüstern. Er verneigte sich huldvoll, wie immer in ein schwarzes Justaucorps und helle Kniebundhosen gekleidet. Seit fünfzehn Jahren, seit Beginn ihrer Amtszeit, stand der rund sechzig Jahre alte Mann in Diensten der Fürstäbtissin.
»Lassen Sie Gräfin Aurelia ein«, bestätigte diese nickend. »Und lassen Sie auf der Stelle meinen Schreiber rufen. Er soll unverzüglich hier erscheinen!«
»Sehr wohl, Gnädigste«, antwortete der Diener. In fünfzehn Jahren war er nicht einmal krank gewesen, an keinem Tag war sein treusorgender Gesichtsausdruck verändert, nie sah man etwas anderes als freundliche Besorgnis in den kleinen, rundlichen Augen, und immerzu lächelte er. »Haben Gnädigste außerdem einen Wunsch?« Ob ihn je eine andere Frage hinter seiner vorgewölbten Stirn beschäftigt hatte?
»Mich dürstet«, sagte Sophie Albertine mit einem verhaltenen Seufzer. Ihre schwarzen Haare wurden von einem braunen Haarband in Nachahmung eines Lorbeerkranzes zurückgehalten, nur die leicht verkrustete Stirnwunde hatte man mit adrett darüberfrisierten Löckchen zu verdecken versucht; dennoch stach die Verletzung erschreckend aus
dem bleichen Gesicht hervor. Nach dem Kutschunfall schien es ihr heute mäßig besser zu ergehen. Ihre Stimme klang kräftig, und sie empfing die Damen sitzend an dem großen vergoldeten Marmortisch.
Aurelia atmete tief durch, betrat an Borginino vorbei den edlen Kapitelsaal und verneigte sich vor der Fürstäbtissin, die entsprechend dem Anlass festlich gekleidet war: Sie trug ein dunkelblaues Samtkleid mit Schleifen und weißen Seidenabschlüssen, weit ausgestelltem Rock und eng geschnürter Taille. Auf der linken Brustseite prangte das von ihr entworfene Stiftsabzeichen in Form eines Johanniterkreuzes mit einem Wappenschild des Stiftes, den gekreuzten silbernen Vorlegemessern auf rotem Grund.
Borginino begann, die weißen Kerzen des prunkvollen Kandelabers anzuzünden. Zwölf an der Zahl, entsprechend der Stuhlanzahl am Kapiteltisch. Die runden Stuhlflächen waren mit dunklem Samt bespannt, und die zierlichen, leicht geschwungenen Stuhlfüße hatte man passend zum Tisch vergoldet. An der Stirnseite, in der Nähe des weißen Kachelofens, saß die Fürstäbtissin. Zu ihrer Linken nahm für gewöhnlich der Leibarzt Platz und zu ihrer Rechten der Stiftskanzler. Die restlichen acht Plätze waren für die Gräfinnen bestimmt, der hohe Lehnstuhl am anderen Tischende war der Stiftsältesten vorbehalten.
Die zwei außen stehenden Kerzen ließ der Diener unbeachtet, weil diese für die Gräfinnen ohne Bemäntelung standen. Eine Weile betrachtete Aurelia den Kandelaber, dann straffte sie ihre Schultern, ehe sie auf die Fürstäbtissin zuging. Ihre Schritte hallten über den blankpolierten Steinfußboden, und die Fürstäbtissin sah ihr mit leicht hochgezogenen Augenbrauen entgegen.
»Verzeihen Sie«, bat Aurelia, »dürfte ich Sie wohl höflichst um eine kurze, aber dennoch sehr dringliche Unterredung vor Beginn der Sitzung ersuchen? Es geht um meine Bemäntelung …«
Die Fürstäbtissin schüttelte bedauernd den Kopf. »Alles Notwendige wird in der Kapitelsitzung besprochen.« Sie beendete das Gespräch, indem sie sich der Türe zuwandte, wo gerade die anderen Gräfinnen und Prinzessinnen eintrafen.
»Ach, guten Tag, Katharina Amalie Prinzessin von Baden! Ich freue mich, dass Sie trotz der widrigen Umstände den Weg zurück ins Stift gefunden haben. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht? Wunderbar, die anderen kommen ja auch schon! Herr Stiftskanzler, setzen Sie sich doch bitte auf Ihren Platz.«
Aurelia stellte sich vor den Kachelofen in die Nähe der Fürstäbtissin und tat so, als wolle sie sich ein bisschen wärmen. Dabei wartete sie mit zunehmender Nervosität auf eine zweite Gelegenheit, Sophie Albertine anzusprechen. Reihum sahen die ehemaligen Fürstäbtissinnen in Ölporträts von den
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