Mädchen und der Leibarzt
goldgelben, stofftapezierten Wänden mit gestrengen Blicken auf das Geschehen hinunter, dem sich Aurelia so sehr ausgeliefert fühlte. Wieder eine dieser Kapitelsitzungen, an denen sie wie ein Schatten anwesend sein durfte – doch heute sollten sich hier die Weichen für ihr weiteres Leben stellen.
Die Fürstäbtissin hatte ihr den Rücken zugekehrt und bedachte nun jede der eintretenden Gräfinnen mit einigen herzlichen Worten, ehe sie die Damen an den Tisch bat. Diese waren wie immer nach der neuesten Mode gekleidet, trugen fließend weiche Kleider ohne Mieder in zarten
Farben, bis auf die Seniorin Gräfin Maria, die gegenüber der Fürstäbtissin an der Stirnseite Platz nahm und mit zusammengekniffenen Lippen auf den Beginn der Kapitelsitzung wartete. Sie trug eine dunkelblaue, fast schwarze Robe, die an den Ärmeln und am Kragen mit weißer, gezackter Spitze verziert war. Die langen Seidenbänder der gekräuselten Haube reichten bis über die Brust und das enge Mieder hinunter. Als Stiftsälteste war sie die Fürsprecherin der Gräfinnen, und Aurelia beschloss, sich neben sie zu setzen.
Mit einem freundlichen Nicken trat sie an den Tisch und zog den freien Stuhl zurück. Doch gerade als sie sich setzen wollte, huschte die Schleppe eines bräunlich schimmernden Kleides wie eine Schlange an ihr vorbei, und Crescentia Gräfin zu Stolberg-Gedern drängte sich vor Aurelia auf den Platz, die jetzt dastand wie ein Diener, der soeben einer Dame den Stuhl geboten hatte. Crescentia drehte sich zu ihr um und bedankte sich mit einem falschen Lächeln, das ihre gelben Zähne zur Schau stellte. Aurelia gab sich unbeeindruckt und setzte sich schließlich auf den Platz neben der jüngsten Gräfin, die wohlweislich eine Lücke zwischen sich und dem Äskulap gelassen hatte. In der stillen Hoffnung, der Leibarzt möge wegen einer Visitation nicht erscheinen, griff Aurelia nach der goldenen Stuhllehne. Doch gerade als sie sich setzen wollte, schnellte die Hand von Felicitas besitzergreifend auf die samtene Sitzfläche.
Aurelia spürte leichte Panik aufsteigen und war dankbar, als sie die dezent herbeiwinkenden Fächerbewegungen der Stiftsältesten bemerkte. Sie steuerte auf den freien Stuhl zu, doch der Kommentar Gräfin Marias ließ sie in ihrer Bewegung erstarren.
»Ich meinte die Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich. Nicht Sie.« Sie spie die letzten Worte aus wie verdorbenes Essen.
Besagte Gräfin kam lächelnd näher. Sie hatte sich ihre zartrosa Seidenschleppe über den Unterarm gelegt und verströmte einen süßlichen Parfümduft. Ihre Haare waren nach dem Vorbild einer griechischen Göttin zu kurzen Löckchen frisiert, die von einem Diadem aus bläulichen Perlen gehalten wurden. Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich würdigte Aurelia keines Blickes.
Da hörte Aurelia die Stimme des Stiftskanzlers hinter sich. »Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich gerne zu mir setzen.«
Aurelia drehte sich zu ihm um. Gerne hätte sie Sebastians Nähe gemieden – wenn sie die Wahl gehabt hätte. Unter dem verhaltenen Gekicher der anderen ließ sie sich neben ihm nieder.
Wie sie erwartet hatte, beugte sich Sebastian neugierig zu ihr herüber. »Wie geht es Ihnen? Ist es Ihnen wohler?«
Aurelia starrte ohne Wimpernschlag in die Kerzenflammen. Sie hatte ihn nicht gehört, einfach nicht gehört. Einen Moment später bat die Fürstäbtissin um Ruhe und ließ die Türen schließen, damit war sie zum guten Glück von einer Antwort entbunden.
»So lasset uns die Kapitelsitzung im Namen Kaiser Franz II. und auch im Namen des Heiligen Vaters beginnen. Zunächst einmal möchte ich dem Kaiser und auch dem Herrgott dafür danken, dass er uns und das Stift vor dem Krieg gerettet hat und wir uns wohlbehalten hier zusammenfinden konnten, um nun den gewohnten Gang der Dinge wieder aufzunehmen.« Die Fürstäbtissin hob ihre Lorgnette an die Augen, und ihr Blick blieb an den beiden freien Stühlen
zu ihrer Linken hängen. Sie schaute in die Runde. »Monsieur Dottore Tobler ist bestimmt noch von einem Patienten aufgehalten worden. Aber weiß man etwas über den Verbleib der Gräfin Sophie? Ist sie noch nicht zurückgekehrt? Werte Seniorin Gräfin Maria, wissen Sie Näheres?«
Die Stiftsälteste deutete ein Kopfschütteln an.
»Sie wird doch wohl nicht in diesen Kriegswirren zu ihrer Grand Tour aufgebrochen sein?«, erhob die Fürstäbtissin ihren Verdacht.
Gräfin Maria zuckte mit den Schultern. »Möglich wäre es. Gräfin Sophie erwähnte etwas
Weitere Kostenlose Bücher