Mädchen und der Leibarzt
wusste, sie hatte das einzig Richtige getan.
»Herr erbarme dich unser!«, murmelte die Seniorin Gräfin Maria, und etwas lauter setzte sie hinzu: »Hätten wir das nur nie erfahren! Was sollen wir denn jetzo tun?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.« Die Fürstäbtissin sah zu Boden.
»Vielleicht sollten wir noch milde Blattern kaufen?«, überlegte die Seniorin laut.
Die Gräfinnen am Tisch schüttelten vehement den Kopf.
»Da sehen Sie es. Außerdem ist es für eine Inokulation wohl bereits zu spät. Die Gefahr ist zu groß, dass wir uns eine schwere Form einhandeln. Nicht wahr, Helena?«
Sie erschrak, als sie so plötzlich angesprochen wurde. »Ja«, sagte sie schnell und wünschte sich plötzlich für weitere medizinische Auskünfte den Leibarzt an ihre Seite.
»Gibt es denn gar keine Rettung?«, verzweifelte die Seniorin. »Müssen wir das Stift schon wieder verlassen? Diese Strapazen, diese elenden Kutschfahrten, das macht meine Gesundheit nicht länger mit. Wir müssen uns doch irgendwie vor den Blattern schützen können!«
Helena blieb stumm. Sie sah im Geiste Ernestines Hände vor sich, und alles in ihrem Inneren sträubte sich. Es gab kein Mittel gegen die Blattern. War ihr der Tod der Großmutter noch nicht Beweis genug?
»Was schlägst du vor, Helena?«
Ihr Magen verkrampfte sich. Die Fürstäbtissin übertrug ihr zu viel Verantwortung. Viel zu viel.
»Ich würde sagen … Es würde in jedem Fall helfen, wenn das kranke Mädchen separiert wird. Niemand, dem sich das Gift mitteilen kann, darf sich dem Wohnhaus nähern. Somit könnten wir der Seuche vielleicht ein wenig die Nahrung entziehen.«
»Meine Damen, Sie haben es gehört! Niemand verlässt mehr das Stift, auch das Promenieren im Stiftshof ist ab sofort untersagt. Vermeiden Sie jeglichen Kontakt mit verdächtigen Personen. Nicht auszudenken, was sonst passieren könnte …«
Die Damen nickten stumm.
»Und nun kommen wir zu einem anderen Thema«, sprach die Fürstäbtissin betont frohgemut weiter, so als habe sie eben ein trauriges Buch zugeschlagen und wolle sich nun Erfreulicherem zuwenden. »Es ist eine gute Nachricht. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat dieser größenwahnsinnige Napoleon das linke Rheinufer in Besitz genommen. Damit hat er erreicht, was er wollte, und schmälert dadurch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Das ist schlimm genug, aber noch schlimmer sind die zahlreich kursierenden Gerüchte. Ich möchte dem Ganzen hier und an dieser Stelle unmissverständlich einen Riegel vorschieben: Die gute Nachricht ist, unser Damenstift wird nicht aufgelöst.«
Die Fürstäbtissin forderte das Flugblatt aus dem Stift Säckingen von ihrem Schreiber, und nachdem er ihrem Befehl eiligst nachgekommen war, präsentierte sie das Pergament mit spitzen Fingern. »Ein derartiges Flugblatt wie dieses aus dem Stift Säckingen will ich in unseren Räumen nirgendwo erblicken! Und ich möchte kein Wort darüber hören, dass auch unser Stift aufgelöst werden könnte. Gerüchte wie dieses sind völliger Humbug. Haben Sie mich verstanden? In diesem Hause herrschen Ruhe und Frieden. Bitte suchen Sie sich darum für Ihre Kaffeekränzchen ein anderes Thema.« Sie rollte das Pergament betont sorgfältig zusammen und übergab es wieder ihrem Schreiber, der sich
mit einer Verbeugung schnell wieder in den Hintergrund verzog.
Der Stiftskanzler erbat das Wort und erhob sich. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. »Ich bitte zu bedenken: Napoleon will kirchlichen Besitz in weltlichen umwandeln. Und das ist kein Gerücht! Napoleon hat Frankreich bis an den Rhein vergrößert, und damit haben zahlreiche deutsche Fürsten ihre Gebiete links des Rheins an ihn verloren. Und Napoleon wird die Fürsten mit kirchlichen Gütern rechts des Rheins entschädigen. Aus unserem eigenen Reich!«
»Bitte, Herr Stiftskanzler! Gerade von Ihnen hätte ich solche Worte nicht erwartet. Wie kommen Sie dazu, diesem albernen und ängstlichen Geschwätz nachzuhängen? Ihnen hätte ich etwas mehr Verstand zugetraut. Wie sollte man bitte der Kirche einfach so ihre Güter und Ländereien wegnehmen können, um irgendwelche Fürsten damit für ihre Kriegsverluste zu entschädigen?«
»Ich fürchte, man kann. Denken Sie nur an Herzog Ulrich und Herzog Christoph: Wie haben die seinerzeit gewütet? Sie haben die katholischen Klöster heimgeramscht und evangelische Klosterschulen daraus gemacht. Einfach so! Sie sehen also, es geht.«
»Verehrter Herr
Weitere Kostenlose Bücher