Mädchen und der Leibarzt
Stiftskanzler«, sagte die Fürstäbtissin und faltete die Hände, »gerne dürfen Sie mir etwas aus Ihrem Rechnungsbuch vortragen, da glaube ich Ihnen jede Zahl, aber in der Geschichte unterlassen Sie bitte Ihre Belehrungen. Diese ist mir hinlänglich bekannt. Und falls es Ihnen immer noch nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind hier kein Kloster, sondern ein traditionsreiches, von Kaiser Heinrich gegründetes Stift, unveräußerlicher Teil des Heiligen Römischen Reiches und desselben immediater Stand
mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag. Was soll uns also bitte passieren?«
Niemand am Tisch erwiderte etwas. Nur der Stiftskanzler wagte noch einen Einwand: »Und warum sind Gnädigste dann ein Oberhaupt des Kirchenwesens?«
»Herr Stiftskanzler, ich wurde von den Damen ohne geistliches Präsidium zur Fürstäbtissin gewählt. Außerdem haben wir uns nur an unsere eigenen Kanonischen Gesetze zu halten. Und was die Rechtsprechung über die Geistlichkeit angeht, wird der Weltlichkeit dadurch kein Hindernis beigebracht.«
Verständnislos schaute Helena zwischen den beiden hin und her, ohne zu wissen, für wen sie Partei ergreifen sollte.
»Außerdem …«, sagte eine etwas ältere, mit Rubinen geschmückte Gräfin und hob den Fächer in die Höhe, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Außerdem zählen wir nicht zum kirchlichen Besitz. Wenn wir also bereits in weltlicher Hand sind, kann man unser Stift doch gar nicht auflösen. «
»Ganz recht, werte Luise Ferdinande Gräfin zu Nassau-Weilburg. «
»Und zudem ist es zu unserer Ausstattung gegründet worden!«, ereiferte sich eine in Rosa gekleidete Gräfin an der Seite der Seniorin.
»Seien Sie ganz unbesorgt, liebe Auguste Maria Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, denn dabei wird es auch bleiben.«
»So ist es. Denn im Grunde wurden wir doch schon vor Jahrhunderten der Weltlichkeit zugeführt. Was soll man uns also anhaben?«, fragte Crescentia Gräfin zu Stolberg-Gedern.
»Nichts, meine Liebe. Rein gar nichts.«
»Außerdem erhält das Stift Einkommen aus Familienpräbenden; es gehört demnach uns. Da gibt es keinen Zweifel! «, warf die Gräfin mit den kurzen Löckchen ein, die an Helenas Tischseite saß.
»Niemand wird uns unsere Existenz streitig machen, Felicitas Prinzessin von Sachsen-Gotha-Altenburg.«
»Richtig. Und seit der Gründung des Stifts sind genau 866 Jahre vergangen … Wieso sollte es jetzt auf einmal aufgehoben werden?«, warf Gräfin Maria ein.
Helena musste grinsen. Das Argument der Seniorin war natürlich kaum von der Hand zu weisen.
»Sehr richtig, liebe Seniorin Gräfin Maria. Sehr vernünftig, meine Damen.« Die Fürstäbtissin nickte in die Runde. »Ich sehe, wir sind uns einig.«
»Das ist schön«, sagte Sebastian und ließ sich zurücksinken. »Aber unter den Fürsten ist man sich leider auch bereits einig.«
Helena sah, wie er mit sich kämpfte. Fand er nicht die richtigen Worte, oder wollte er nicht seine Stellung als Stiftskanzler riskieren? Sie räusperte sich kurz, um etwas zu sagen, dann aber verließ sie wieder der Mut. Wusste Sebastian, wovon Gregor ihr letzte Nacht erzählt hatte? Bestimmt nicht. Schließlich war Sebastian niemals mitten im Kriegsgeschehen gewesen. Helena holte tief Luft. Ihr konnte nichts passieren. Hoffentlich.
»Gnädigste Fürstäbtissin, wenn ich dazu bitte etwas sagen dürfte? Sie wissen ja nicht, wie es in Paris zugeht … Der Kongress gleicht einer Handelsbörse! Seit die Reichsdeputation in neu geschaffenen Paragrafen die Auflösung der Stifte und Klöster für rechtens erklären konnte, hat Napoleon
jeden Fürsten aufgerufen, ihm anzuzeigen, welches Gebiet er als Entschädigung wünsche und was ihm am gelegensten sei. Seit die Fürsten wissen, dass sie per Dekret mit geistlichen Gütern entschädigt werden sollen, ist der Knoten geplatzt. Napoleons Minister kann sich kaum vor den fürstlichen Pilgern retten. Er hat sein Amtszimmer vollständig mit Landkarten des Heiligen Römischen Reiches behängt, damit …« Helena verstummte. Der Gesichtsausdruck der Fürstäbtissin verhieß nichts Gutes. Unwillkürlich rutschte sie auf ihrem Stuhl ein wenig tiefer. Was war denn nur in sie gefahren? Warum musste sie sich so weit aus dem Fenster lehnen? Es ging sie doch gar nichts an.
»Habe ich recht gehört? Was soll denn der Unsinn? Wer hat dir bloß solche Geschichten aufgetischt?«
»Gre… Der Grenadier, der die Landkarten aufgehängt hat, um den Bären zu verdecken, den ich euch
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