Mädchen und der Leibarzt
… sie braucht ein frisches. Wohl ziehe ich ihr jetzt gleich das Reisehemdchen an, das weiße Hemdchen, das ich eben fertig genäht habe.« Sie nahm es von der Stuhllehne, fasste ihre Tochter sachte in der Halsbeuge und an den Schulterblättern und versuchte sie aufzusetzen.
Lea begann zu schreien, schrie mit letzter Kraft: »Mama! Mein Kopf, mein Rücken! Der Geist! Nimm ihn runter! Er ist so schwer! Mama, hilf mir, er erdrückt mich!« Erschöpft rang Lea nach Atem, röchelnd, die Augen fest geschlossen. Sie warf ihren Kopf hin und her, versuchte auszuweichen, zu entkommen. »Mama«, flüsterte sie heiser. »Du musst ihm Honig geben. Dann geht er wieder …«
Die Mutter sammelte weinend ein Haar nach dem anderen vom Kopfkissen und barg sie in ihrer Hand.
»Nehmen Sie Lea auf Ihren Arm, dann wird sie sich wieder beruhigen.«
»Nein, das darf ich jetzt nicht mehr.« Die Mutter wischte sich die Tränen von den Wangen. »Es darf keine einzige Träne auf sie fallen, wenn … wenn der Tod kommt und ihre Hand nimmt. Sonst zerreißt es ihre Seele, und sie bleibt als Geist zurück. Ich muss sie gehen lassen.«
»Das müssen Sie nicht! Lea atmet, sie wird wieder gesund ! Sie ist stark, und das müssen Sie jetzt auch sein, dann wird alles wieder gut!«
Die Mutter schüttelte traurig den Kopf. Die Tränen versiegten, als sie ihr eigenes Kleid öffnete, ihren Bauch entblößte und wortlos auf die ersten Blatternflecken deutete.
Es war schon beinahe dunkel, als Helena ins Stiftsgebäude zurückkehrte. Sie hielt den Beutel mit den Fläschchen fest an sich gepresst, während sie die düstere Treppe emporstieg und dem endlosen, nur von ein paar Öllampen erhellten Gang zu Aurelias Räumlichkeiten folgte. Ob es Aurelia mittlerweile besserging?
Die Frage beantwortete sich von selbst, als sie nach Aufforderung ins Zimmer trat und die junge Gräfin sah. Aurelia saß zusammengekauert auf dem Bett, hielt ihre Knie umschlungen und sah ihr mit verquollenen Augen entgegen. Sie hatte die festliche Frisur gelöst, ihre dunklen langen Haare fielen in dicken Strähnen auf das gelbe miederlose Kleid. Die blaue Stiftsrobe lag achtlos am Boden.
»Guten Abend, werte Gräfin von Hohenstein.« Helena versuchte sich an einem Lächeln. »Verzeihen Sie, ich bin sehr spät dran. Hier ist Ihre Wohlverleihessenz.« Sie öffnete ihren Beutel.
Aurelia streckte die Hand nach der kleinen bauchigen Flasche aus und nahm diese wortlos an sich. Mit glasigem Blick drehte sie das Fläschchen hin und her, während ihre Gedanken in einer anderen Welt zu sein schienen.
»Soll ich Ihnen damit ein wenig den Rücken einreiben?«, fragte Helena behutsam nach.
Aurelia faltete ihre Hände um den Flaschenhals wie zum Gebet. »Lass nur, ich mache das selbst«, erklärte sie vollkommen abwesend. Sie löste den Korken aus der Flasche und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Was tun Sie da? Nein, nicht!«, rief Helena entsetzt, als Aurelia die Flasche zum Trinken anhob. »Damit bringen Sie sich um! Geben Sie mir die Flasche«, flüsterte Helena beschwörend und ging dabei langsam auf das Bett zu.
»Komm mir nicht zu nahe!«, stieß Aurelia hervor und krampfte ihre Hände um die Flasche.
»Aurelia, warum tun Sie das?«
»Ohne Gregor sind wir verloren!«
»Wir?« Helenas Gedanken überschlugen sich. »Aber … aber das ist doch kein Grund, sich umzubringen!«
»Natürlich ist es das! Als lediges Weib lande ich ohnehin am Galgen oder unter dem Schwert!« Aurelia legte den Kopf in den Nacken und setzte die Flasche erneut an.
»Nein, nicht! Es ist nicht wahr, was Sie glauben! Wegen Leichtfertigkeit werden Sie nicht mit dem Tode bestraft! Das sind Märchen! Böse Märchen, die von Eltern erzählt werden, um ihre Kinder von der Unzucht und deren Folgen abzuhalten!«
Aurelia hielt überrascht inne.
»Bitte …«, Helena streckte die Hand aus, »bitte geben Sie mir das Wohlverleih.«
»Nein!« Aurelia umklammerte die Flasche und in ihren Augen blitzte es auf. »Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?«
»Weil ich Hebamme bin und von solchen Dingen etwas verstehe!«, stieß Helena fieberhaft hervor.
Für einen winzigen Moment blitzte ein Hoffnungsschimmer in Aurelias dunklen Augen auf, der jedoch sofort wieder erlosch. »Ich werde die Geburt ohnehin nicht überleben. Und wenn doch, wird man mich vor den Richter bringen.«
»Das mag sein. Eine voreheliche Vereinigung wird jedoch mit Milde geahndet, selbst wenn daraus ein Kind entstanden ist. Kindsmord aber
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