Mädchen und der Leibarzt
als sie in die Schlossberggasse gingen, Helena drei Schritte hinter dem Leibarzt. Es war ein milder Herbstmorgen, an dem sich die bunten Farben in ihrer ganzen Fülle gegen den blauen Himmel abzeichneten. Die Sonnenstrahlen wärmten die kühle Haut und verursachten Helena einen wohligen Schauer.
Ernestine wartete bereits an der Haustür und Helena lächelte ihr entgegen. Doch es schien der Witwe nicht gutzugehen. Ihre Wangen waren gerötet und die Augen glänzten fiebrig.
»Oh, werter Herr Doktor, und Helena, sei gegrüßt! Gut, dass Sie endlich da sind. Kommen Sie nur beide herein. Eigentlich müsste es mir viel bessergehen, seit mein Mann heute Morgen auf den Friedhof gebracht wurde. Nun ja, es geht mir auch besser …«
»Wozu bin ich dann gekommen?« Der Leibarzt bückte sich, als er eintrat, um nicht an die niedere Decke zu stoßen. »Außerdem könntest du hier gehöriger lüften, damit es den elenden Gestank deines Mannes endlich fortnimmt.«
Helena warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Leibarzt. Vermutlich nahm der Äskulap nur seinen eigenen Gestank wahr, jedenfalls war es frisch gelüftet und so sauber, wie man es nur selten antraf.
Obwohl nur das notwendigste Mobiliar vorhanden war, passten sie kaum zu dritt in die Stube. Ein Tisch mit drei Stühlen unter dem Kruzifix, im Eck eine Ofenbank und eine Holztruhe, auf der zwei schwarz bestickte Kissen lagen. Auf dem Tisch entdeckte Helena ein offenes Holzkästchen und bei näherem Hinsehen erkannte sie auf ein schwarzes Tuch gebettet die Eheringe der beiden.
Der Äskulap nahm das Kästchen in die Hand und musterte den Inhalt abfällig: »Wohl hätte ich so meine Zweifel, ob den Totengräbern das Blech als Lohn genügen wird.«
Wortlos nahm Ernestine das Kästchen an sich und barg es in ihren Händen.
»Aber du scheinst ja noch genügend Geld zu haben, wenn du mich hier so lange herumstehen lässt. Was macht deine Tochter?«
»Sie erholt sich zusehends. Und hin und wieder kommt sie sogar aus dem Keller, um etwas zu essen.«
»Das ist viel zu gefährlich. Du sollst sie einsperren, habe
ich dir doch gesagt! Wenn der Übermut nicht nachlässt, soll sie durch Rückwärtszählen ihren Geist beschäftigen.«
»Aber es geht meiner Tochter tatsächlich schon besser. Sie spricht wieder ganz normal mit mir, wenn auch nicht viel …«
»So, jetzt sind wir bei der dritten Sanduhr. Bei euch Weibern kann man nur den Kopf schütteln: Erst klagen sie, sie hätten kein Geld, und dann vertratschen sie es. Aber so ist das eben, wenn sich das Maul erst nach dem Sargdeckel schließt. Und wenn du gerne drei Kreuzer ausgeben willst, nur um mir zu sagen, dass es allen gutgeht, bitte sehr. Narren soll man nicht bekehren.«
»Oh, Herr Doktor. Mir geht es schlecht, sonst hätte ich Sie nicht gerufen.«
»Siehst du, Helena? Ist der Doktor erst mal da, kommen tausend Zipperlein zum Vorschein. Nun gut. Muss ich dich untersuchen oder willst du dir dieses Geld plötzlich sparen?«
»Oh bitte. Ich habe solche Schmerzen im linken Arm.«
Der Äskulap zog die Augenbrauen hoch. »Wovon soll das kommen?«
»Das … ja vielleicht … Ich weiß es nicht so genau.«
»Schon recht. Das macht dann sieben Kreuzer. Habe die Ehre.«
»Ja, aber Herr Doktor? Was fehlt mir denn?«
»Unwichtig. Du bist auf der abschüssigen Seite des Lebens, Ernestine. So ist das. Dein Herz wird es wohl nicht mehr lange mitmachen. Sei froh, sodann kannst du bald wieder mit deinem Mann in einem Bett schlafen.«
Helena platzte der Kragen. »Sehen Sie nicht ihren geschwollenen Arm? Und das Fieber? Das kann nicht vom Herzen herrühren! Sie müssen sie untersuchen. Es wird
wohl der Knochen sein.« Sie wollte nicht noch einmal einen Fehler machen. Und es wäre einer, wenn sie jetzt klein beigeben würde. »Bitte, Ernestine. Sag mir, woher der Schmerz rührt. Geht er zum Herzen oder bleibt er im Gebein? «
Mit einem ängstlichen Blick auf den Leibarzt flüsterte Ernestine: »Er ist im Gebein.«
»Hast du dir den Arm gestoßen? Oder bist du vielleicht unglücklich gefallen?«
»Ja, ich bin gefallen. Oh ja, das ist schon möglich, dass es davon kommt!«
Der Leibarzt schüttelte den Kopf. »Ich fasse es nicht. Ich fasse es einfach nicht! Nicht nur falsch behandeln, sondern dem Patienten auch noch falsche Krankheiten einreden.«
»Aber ich bin tatsächlich gefallen, Herr Doktor.«
Der Leibarzt nahm Stock und Tasche. »Auf deine Verantwortung, Helena. Wenn du doch so gerne nach Hause zurückwillst … Reisende
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