Maedchenauge
hatte sie die Macht, zu handeln.
Am Morgen überprüfte sie ihr Handy. Es gab keinen Anruf von Lenz. Das beruhigte sie. Wobei ihr bewusst war, dass sich Lenz vielleicht einfach nur aus der Schusslinie der Medien bringen wollte und auf Tauchstation gegangen war. Bereits heute Abend oder am nächsten Tag konnte die Situation anders aussehen. Und zu Lilys Nachteil ausfallen.
Wie sehr sich die Lage zugespitzt hatte, wurde Lily klar, als sie kurz vor neun Uhr das Graue Haus betrat. Sofort winkte ihr der erstaunlich ernst dreinblickende Portier zu, als hätte er bloß auf sie gewartet. »Für Sie ist etwas abgegeben worden, Frau Doktor. Wie letzte Woche. Nur ist diesmal der Briefkasten beim Eingang benutzt worden. Kein Fahrradbote mehr.«
Einen kurzen Moment lang hatte sich Lily gewundert. Doch sofort war ihr klar, dass erneut alles ins Bild passte. Sie nahm den Brief entgegen und erkannte die Ähnlichkeit mit dem früheren Schreiben.
Sehr verehrte Frau Staatsanwältin Dr. Horn!
Den aktuellen Medien entnehme ich meine Kenntnis Ihrer Vorgangsweise. Deren Sinnhaftigkeit ich allerdings ganz entschieden bezweifle.
Angeblich haben die von Ihnen verhafteten Personen etwas mit den Wiener Serienmorden zu tun und seien möglicherweise deren Urheber.
Die aktuelle Gesetzeslage macht es mir leider unmöglich, diese Behauptungen nachhaltig zu korrigieren. Gerne würde ich Ihnen persönlich erzählen, dass ich mit der Tötung von Selma Jordis nichts zu tun habe. Folglich ist auch die Urheberschaft der von Ihnen verhafteten Personen limitiert.
Kurz: Die Verhafteten sind nicht und in keiner Weise für die anderen Wiener Morde verantwortlich!
Habe ich mich klar ausgedrückt?
Mit anderen Worten: Es war Kain, der Abel erschlug. Und nicht Set.
Sie verstehen sicher, was ich meine.
Mit unfreundlichen Grüßen, solange Sie irren und ich daher in anhaltender Unversöhnlichkeit verharren muss,
Der Richter
Wieder ein mehrfach kopierter Computerausdruck. Lily fotografierte ihn mit dem Handy und ließ ihn an die Kriminaltechnik weiterleiten. Sie ordnete an, möglichst bald eine Kopie zur Verfügung zu stellen.
Jemand war nervös geworden und sah sich um den Ruhm für seine Taten betrogen.
Genau das hatte Lily angestrebt. Der Trick war gelungen. Und Gaby Koch hatte dazu beigetragen. Wenn auch unfreiwillig.
Lily telefonierte mit der Justizwache im Haus. Sie erteilte die Anweisung, unverzüglich die Videoaufnahmen der Kamera über dem Briefeinwurf sichten zu wollen. Danach rief sie Descho an.
Der war bester Laune, was auch Lily beflügelte. »Ihre Einmischung hat geholfen, Frau Doktor Horn. Man hat mich nach Ihrem Anruf dem Fall zugeteilt. Dem Kollegen Kaller, der mich auf die Sache aufmerksam gemacht hat, ist das ohnehin recht. Er freut sich über jede Unterstützung.«
»Was wissen Sie bisher, Herr Descho?«
»Zach muss relativ rasch tot gewesen sein. Sein gesamter Hinterkopf ist zertrümmert worden.«
»Das zeigt die große Wut des Täters. Die ausgestochenen Augen legen nahe, dass es ihm darum gegangen ist, Zach posthum zu entstellen.«
»Das glaube ich auch. Außerdem sind im Pfarrhaus Spuren von Benzin entdeckt worden. Der Täter wird ein Feuer geplant haben.«
»Wieso ist es dazu nicht gekommen?«
»Vielleicht hat ihn jemand gestört, während er versucht hat, den Brand zu legen. Wobei … Vielleicht hat es ihm leid getan, dieses schöne alte Haus, in dem so viele Erinnerungen schlummern, anzuzünden … Entschuldigen Sie, Frau Doktor, das ist natürlich ein blöder Gedanke …«
Lily unterbrach ihn auf der Stelle. »Herr Descho, Sie sagen da etwas sehr Interessantes. Ja, so könnte es sein … Möglicherweise ist unser Mörder ein besonders kultivierter Mensch. Oder ihn binden Erinnerungen an das Haus, weshalb er das Abfackeln letztlich nicht übers Herz gebracht hat.«
»Jedenfalls war das Haus in großer Unordnung. Der Täter muss etwas gesucht haben. Zach wird das Chaos kaum selbst verursacht haben. Überall sind Bücher, Aktenordner und Papiere herumgelegen.«
»Bitte mailen Sie mir möglichst rasch die Tatortfotos. Wissen Sie zufällig, ob etwas fehlt?«
»Das haben wir leider noch nicht feststellen können.«
»Ich verstehe. Wann hat sich die Tat ereignet?«
»Am Montag. Entweder am Abend oder in der Nacht auf Dienstag.«
»Wie ist der Mord entdeckt worden?«, fragte Lily.
»Am Montag hat niemand Zach vermisst. Das ist der Tag, an dem sich die Pfarrer ausruhen können. Am Dienstagmorgen ist der eifrige
Weitere Kostenlose Bücher